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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

glücklicher Unbefangenheit das Niesen schon oft geübt und sein Behagen genossen, dem mag die pathetische Schilderung dieses landläufigen Vorgangs noch komischer erscheinen als die lustige Fratze, welche das Niesen begleitet. Aber ich denke, dieses Lächeln wird sich bald in Ernst verwandeln, wenn man die Frage stellt: wie Jemand wohl einfacher und besser den Act vollführen möchte, der hier in rascher Folge unwillkürlich abläuft? Nach stillem Denken wird er zuletzt gestehen müssen, daß kein Theil des Vorgangs zweckentsprechender hätte sein können. Ungescheut darf man behaupten, daß, wäre die menschliche Erfindungsgabe nach viel Mühe und Zeit dazu gekommen, die von der Natur gegebenen Hülfsmittel in der beschriebenen Weise zu benutzen, es wäre der Erfinder für seine bedeutenden Fortschritte in der Gesundheitslehre zu Paris gekrönt worden.

Aber auch noch jenseits der Nase droht der Luft auf ihrem Wege durch den Kopf Gefahr, insbesondere aber an dem Orte, an welchem sie die Bahn kreuzen muß, welchen der gekaute Bissen zum Magen zu nehmen hat.

Jedermann weiß, daß gegen die Wurzel der Zunge, die zum Schlingen und Sprechen zugleich dient, sich zwei Wege nach unten öffnen, die Speiseröhre, welche zum Magen, und die Luftröhre, welche zur Lunge führt. Wie leicht kann es sich treffen, daß ein Theil den rechten Weg verfehlt, und die Lunge ist hier in um so größerem Nachtheile, weil sie ihren Inhalt aufsaugt, während der Bissen kraftvoll nach unten gepreßt wird. Ein Fehlfall, und das Leben ist dahin, denn die Masse eines vollen Bissens genügt, um die Luftröhre auf immer zu verstopfen. Wären wir auf unsern Mutterwitz angewiesen, es würde sicherlich das einfachste Mahl so lange von der Todesgefahr begleitet sein, bis wir endlich die schwere Kunst des Schlingens gelernt hätten. Hier tritt nun abermals die Natur für uns ein. Ihr Scharfsinn hat rings um den Ort, wo die Luftröhre sich in den Mund öffnet, einen Nervenkranz gelegt, der gegen die Berührung der Speisen äußerst empfindlich ist; wird er getroffen, so befiehlt er den Athemwerkzeugen, die Thore zu schließen und Ruhe zu halten, die Schlingwerkzeuge aber drängt er unwiderstehlich, ihre Thätigkeit so lange zu entfalten, bis aus dem bedenklichen Kreuzweg die Stoffe weggeschafft werden, die dem Magen ein Labsal und der Lunge ein Gräuel sind.

Zuweilen jedoch sind die Nerven, welche die Speisen auf den richtigen Weg führen, schläfrig oder der Herr des Magens und der Lunge will zugleich essen und sprechen, so daß im Schlingen die Luftwege offen stehen. Dann mag es kommen, daß ein Bissen die rechte Bahn verfehlt. Ist dieses geschehen, hat ein fester Körper sich in den Kehlkopf verirrt, so wird es Ernst; eine schmerzhafte Empfindung fordert das Bewußtsein zur Aufmerksamkeit heraus, der krampfhafte Husten stellt sich ein und seinen von unserm Zuthun unterstützten Stößen gelingt es in der Regel, noch vor der Ankunft des Chirurgen die Gefahr zu beseitigen.

Wenn diese kurze Skizze unserer Vorgänge nicht allzu undeutlich war, und wenn Sie aus ihr ermessen wollen, wie viel für die übrigen verwickelteren Functionen unseres leiblichen Lebens gethan sein muß, damit sie gesund von Statten gehen, so dürfte Ihnen das, was Sie täglich an sich selbst erleben, zwar bewundernswürdig klug, aber doch sonderbar und fremd erscheinen.

Vielleicht, so könnten Sie denken, ist es anders mit den Sinnen und den Gliedmaßen, die uns die Eigenschaften der Dinge klar erkennen lassen oder unmittelbar dem bewußten Befehle des Willens gehorchen. Nun wird uns allerdings die unbedingte Herrschaft unseres Ichs sogleich verdächtig, wenn wir bedenken, daß wir zugleich auf das Auge, das Ohr, die Haut, auf Hände und Füße und zuweilen auch noch auf den Geruch, den Geschmack und die Stimme zu achten haben, trotzdem daß der Entschluß und die Vorstellung zum Entstehen einer merklichen Zeit bedürfen. Jedenfalls muß also den Sinnen und den Gliedmaßen die Befähigung zukommen, die Eindrücke, welche sie empfangen, festzuhalten. Aber kaum ist dieses Zugeständniß gemacht, so verlangt die Erfahrung des täglichen Lebens, auch schon wieder neue. So ist zum Beispiel unser Auge ein Werkzeug von höchster Präcision, sein optischer Apparat stellt sich ein für Objecte von verschiedenster Entfernung, seine Achse richtet sich ohne Fehl und Schwanken mit größter Geschwindigkeit auf den gewünschten Punkt, und seinen Bildern giebt es eine von den Objecten unabhängige Lichtstärke. Reichte man einem geschickten Manne, zum Beispiel einem Astronomen, ein Opernglas oder eine Camera obscura und verlangte von ihm, er solle mit derselben Schnelle und Sicherheit wie das Auge Bilder auf der Glastafel des Instrumentes von Gegenständen entwerfen, die bald hier, bald da, bald näher, bald ferner liegen, und stellte man dabei noch die Aufgabe, daß trotz der verschiedensten Helligkeit der Objecte die Lichtstärke des Bildes in sehr engen Grenzen eingeschlossen bliebe, so würde er lächelnd eine solche Forderung von sich weisen, und doch vermag sein Auge geschickter als sein Besitzer alles dieses spielend zu lösen.

Aber das Auge thut noch weit mehr; während es ruhend in den Raum hinaus blickt, und sein Bild auf der mikrometrisch eingetheilten Sehfläche aufnimmt, notirt es genau, welchen Antheil an der Gesammtheit des Geschehenen jedes besonders beleuchtete Stück besitzt, und es schätzt mit Sicherheit ab, um wie viel der entferntere Gegenstand im Bilde wachsen würde, wenn er auf den Abstand der näher liegenden heranrückte. Wird aber gar das Auge während des Sehens bewegt, so mißt es auch noch die Winkel, um die es sich dreht, und wenn der Kopf zugleich seine Lage verändert, so zieht der Gesichtssinn auch noch die Größe und Richtung dieses Vorgangs in Betracht. Dann bildet er aus diesen ebenso zahlreichen als genauen Operationen ein Resultat und übersetzt es in eine für unser Bewußtsein verständliche Sprache, so daß wir die Größe und Lage der Gegenstände unverfänglich sehen, nicht aber erst mühsam erschließen. Wollten sie durchaus zweifeln, daß unser Sehorgan den Raum unabhängig von unserem Bewußtsein ausmißt, so bitte ich zu bedenken, daß dieses letztere so ohne Weiteres gar nicht einmal die Maßstäbe kennt, mit denen die Messung vorgenommen wird. Wir können mit Sicherheit beweisen, daß zu diesen unter andern auch die Zusammenziehungen der Augenmuskeln gehören. Diese können wir selbst aber schon darum nicht in Rechnung bringen, weil wir ohne die anatomische Untersuchung nicht einmal von der Anwesenheit der genannten Muskeln unterrichtet wären. Hätten wir aber die Kenntniß der Bewegung und würde uns nun zugemuthet, wir sollten aus dem Umfang und der Richtung derselben die Größe und Entfernung des gesehenen Gegenstandes ableiten, so würden wir dieses erst dann vermögen, wenn wir mit den nothwendigen Rechnungs-Operationen vertraut wären; gesetzt auch, diese seien uns geläufig, so würde ein geübter Kopfrechner längere Zeit bedürfen, bevor er das Facit gezogen. Alles dieses übernimmt also das Sehwerkzeug selbst; wir geben ihm nur den Auftrag, einen Gegenstand aufzufassen, und alsbald hat es nicht nur den nächsten Befehl vollbracht, sondern auch die vollführten Bewegungen und die empfangenen Eindrücke in logischer Weise zu einem Schluß verarbeitet, und diesen mit solcher Selbstverleugnung dem Bewußtsein dargeboten, daß das letztere der Ueberzeugung lebt, die nächste Ursache der Empfindung liege nicht innerhalb, sondern außerhalb unserer Sehwerkzeuge.

Diese unwillkürlichen und unbewußten Lösungen schwieriger mathematischer Probleme erinnern lebhaft an die Leistungen unserer Rechenmaschinen, die durch rein mechanische Veranstaltungen sehr verwickelte Aufgaben in kürzester Zeit zu bewältigen wissen.

Einrichtungen von der geschilderten Befähigung besitzt nicht allein das Auge, sondern jeder Sinn, namentlich aber der des Gehörs und der des Tastgefühls, und nicht minder schieben sie sich zwischen den Willen und die Werkzeuge zum Gehen, Greifen und Sprechen ein.

Diese Mittelglieder zwischen den äußeren Sinnen und unserem Bewußtsein gehen aber in ihrer Selbstständigkeit noch einen Schritt weiter, sie wirken durch ihre Zustände nicht blos auf unsere Seele, sondern zwei benachbarte, gleichwerthige, an verschiedene Sinne oder Muskelorgane angeknüpfte verständigen sich untereinander und leisten, so lange sie gutwillig sind, durch diese gegenseitige Regulirung die besten Dienste. So bestimmen unter Andern die Hirnorgane, welche die Schwingungen unserer Gehörnerven zählen und in Tonempfindungen umsetzen, die Muskeln unserer Stimmwerkzeuge zu den Spannungen, die zur Erzeugung der Tonhöhe nothwendig sind, welche wir gerade hervorzubringen wünschen. Als ein sicher gestelltes Ergebniß der physiologischen Forschung ist es kurzweg anzusehen, daß alle unsere Sinne und unsere Glieder nirgends eine unmittelbare Beziehung zu unserm Bewußtsein gewinnen. Unsere Seele ist rings umgeben von wohlgegliederten geheimnißvollen Apparaten, die das Ergebniß ihrer innern Thätigkeit unserem Bewußtsein als die Grundlage unseres Denkens dictatorisch aufdrängen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 343. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_343.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)