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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

dieser Zeilen bildet, eingehen, möge ein kurzer Rückblick auf die Geschichte der Bernsteinsucherei gestattet sein.

Wie im Mittelalter hochnothpeinliche Wegweiser in’s Jenseits, Galgen genannt, längs dem Bernsteinstrande aufgepflanzt, den ungestörten Naturgenuß dieser malerischen Gegend erschwerten, so wissen ältere Leute aus dem ersten Drittel unseres Jahrhunderts mehr oder weniger Ergötzliches von den kläglichen Scherereien zu erzählen, die sie von den „Strandkosaken“ jener Tage, den Schutzleuten der damaligen Regalpächter erdulden mußten. Diesem die Badegäste oft in hohem Grade belästigenden Unwesen machte König Friedrich Wilhelm der Dritte im Jahre 1837 ein Ende, indem er das Bernsteinregal den sehr bedürftigen Strandbauern und Fischern gegen geringe Vergütung zu überlassen befahl; ein Recht, welches diese fortan in den ihnen von Urväterzeiten her bekannten Weisen des Schöpfens, Grabens und Stechens ausbeuteten.

So standen die Dinge, als die Herren von der Königsberger Bezirksregierung im Jahre 1862 eines guten Tages durch das Erbieten überrascht wurden, man wolle die Klarmachung des Memeler Fahrwassers im kurischen Haff durch Baggerung, die bisher beträchtliche Summen gekostet, hinfort nicht nur gratis übernehmen, sondern sogar noch fünfundzwanzig Thaler pro Arbeitstag vergüten, wenn das Recht der Bernsteingewinnung darin inbegriffen sei. Dieses willig angenommene Erbieten ging von den Herren Stantien und Becker aus, damals kleine Gewerbtreibende Memels, von denen der erstere bis dahin Kahnschiffer gewesen war und Einsicht in die glückverheißende Situation gewonnen hatte. –

„Viel Geld verdienen ist eine Art Tapferkeit,“ sagt Graf Chlodwig in Auerbach’s neuestem Buch. Nun, an dieser Gattung modernster Ritterlichkeit haben es die eben genannten Herren, recht von der Pike auf gediente Industrie-Obersten, seither wahrlich nicht fehlen lassen.

Auf der Haffseite des Seebads Schwarzort, anderthalb Meilen von Memel auf der kurischen Nehrung gelegen, wo der schöne Rest des alten, unaufhaltsamem Versandungstod verfallenen Hochwalds uns grüßt, wurde das Hauptquartier aufgeschlagen, und rasch blühte hier das San Francisco des neuen ostpreußischen Californiens empor. Schnell wachsendem Bedürfniß folgend bedeckte sich alsbald ein ausgedehnter Bodenstrich mit den Etablistements der neuen Bernsteinfirma: Schiffszimmerplatz, Maschinenwerkstatt, Hafenanlagen, Magazin und Lagerräume, Inspectorwohnung wie Arbeiterbaracken.

Das Gewinnungsverfahren durch Baggerung selbst, nunmehr mit zwölf Dampfbaggermaschinen betrieben, ist der Sachlage angepaßt und völlig zweckentsprechend. Langsam vorrückend und allmählich tiefer dringend graben die zu beiden Selten der Bagger in spitzem Wlnkel gegen den Haffgrund gestellten Schöpfeimer- (Paternoster-)werke zunächst eine grabenartige Rinne in der Bernstein führenden Schicht, indem sie ihren Inhalt in die mit gitterartigem Deckel versehenen begleitenden Prahmkasten entleeren. Mit zunehmendem Tiefgang steigert sich der Bernsteingehalt des so zu Tage geförderten Haffschlammes, bis die Sohle der Bernsteinschicht erreicht ist. Sodann folgt die leichtere und zugleich lohnendere Thätigkeit dieser Schöpfwerke, welche abwechselnd aus dichtgeschmiedeten schweren und siebartig durchlöcherten leichten Eimern bestehen. In der nun fast schlammfreien, meist fünf, oft auch zehn bis fünfzehn Fuß tiefen Wasserrinne rascher sich drehend erzeugen die wuchtigen Eimer eine starke Strömung, welche den Stein lockert und ihn theils diesen, theils den unmittelbar folgenden Siebeimern zuführt, welche ihn wiederum auf jene Prahmgitter ausschütten. Hier wird der kostbare Fund von allem werthlosen Anhang befreit, um, in Säcke gethan, behufs gründlicher Sichtung und Sonderung in die Sortiranstalt zu Memel abzugehen.

In dieser Weise wird mit einem achtstündlich wechselnden Arbeiterpersonal von mehreren Hundert Köpfen Tag und Nacht bei jeder Witterung so lange fortgearbeitet, bis der scharf einsetzende Frost sein strenges Veto spricht.

Man begreift, daß eine solche Arbeit, zumal bei stürmischer Witterung und in rauher Jahreszeit, für die meist völlig durchnäßten Leute eine sehr harte, aufreibende sein muß. Die robusten Naturen des dortigen Litthauer Menschenschlags (Szamaiten oder Kuren) haben sich derselben bei ausreichender Löhnung indeß bisher gewachsen gezeigt. Wir werden diese Wassercyklopen noch bei unterseeischer Thätigkeit wiedersehen.

Fragen wir nun nach den Erfolgen einer so energisch angefaßten Erwerbsarbeit, so ergiebt sich als Durchschnittsertrag der Schwarzorter Baggerei in den letzten Jahren die hübsche Zahl von fünfundsiebenzigtausend Pfund Bernstein pro Jahr von circa dreißig Arbeitswochen. Der wirkliche Werth einer derartigen Menge des kostbaren Fossils entzieht sich jedoch aller Berechnung. Denn die Preise pro Pfund schwanken zwischen vier Silbergroschen für die geringste zur Räucherung und Firnißbereitung bestimmte Waare (Sandgemüll oder Schluck) und etwa fünfundzwanzig Thaler für großes „Sortiment“ (Pfeifenmundstücke und dergleichen), um alsdann, wie jedes Edelgestein abnormer Größe und Qualität, für „Cabinetsstücke“ edelsten hellstrohgelben Bernsteins (Kunstfarbe) bis in’s geradezu Unschätzbare zu steigen. Auch liegt es uns fern, die berechtigten Geheimnisse eines Handelshauses lüften zu wollen, welches unserm lang vernachlässigten Naturschutz nicht nur neue, ungeahnte Fundquellen erschlossen, sondern auch mit viel kaufmännischem Geschick für stets erweiterte Absatzwege sorgt, um mit der schnell wachsenden Erzeugung Schritt halten zu können, und somit ein dauernder Segen unserer gewerbarmen Provinz zu werden verspricht. Seine Agenten und Commanditen finden sich – ein wahrhaft erdumspannender Handelsapparat – zur Zeit bereits in Berlin, Wien, Paris, London, Constantinopel, Bombay, Calcutta, Hongkong, Jeddo, Mazatlan (Mexico) und anderen Orten.

Hat nun im vorliegenden Falle die wissenschaftliche Forschung sich wieder einmal von keck zugreifender Praxis den Vorsprung abgewinnen lassen, so darf dagegen nicht geleugnet werden, daß sie Versäumtes glänzend nachgeholt. Denn die sorgfältigste, eindringendsten geologischen Untersuchungen eines Zaddach, Berent und Anderer auf dem betreffenden Gebiet haben das „Bernsteinräthsel“ seiner völligen Lösung nahe gebracht und mit der Leuchte echter Wissenschaftlichkeit das Dunkel gelichtet, welches die Geburts-, vornehmlich aber die wissenswerthere heutige Lagerungsstätte des kostbaren Minerals lange genug umhüllt hielt.

Der Bernstein, das Elektron (Sonnenstein) der Odyssee, der lieblichen hellenischen Mythe nach, die versteinten Thränen der weinend in Bäume gewandelten Schwestern des Phaëthon, des unklugen Sonnenrosselenkers; jener uralte Fabelstein, dessen Handelsmonopol sich die Phönicier, des Alterthums schlaue Hebräer, durch abschreckende Sagenverbreitung über seinen Fundort Jahrhunderte hindurch zu sichern verstanden; dieser einst dem Golde gleich geachtete Naturschatz – er entströmte in der Schöpfungsperiode, die wir die Tertiärzeit nennen, als ein äußerst schnellfließendes Harz einigen Coniferen- (Fichten-) Arten des mächtigen, große Strecken des nördlichen Continents jener Zeit bedeckenden Bernsteinwaldes. Fortwährend, auch neuerdings vielfach vorgekommene Funde im Bernstein eingeschlossener, in den flüchtigsten Stellungen festgehaltener Thierchen, den Augenblicksbildern der heutigen Photographie vergleichbar, bekunden den raschen Fluß des massenhaft, vielleicht krankhaft, ausgesonderten Harzes. Mit dem Entzücken des eifrigen Archäologen, der heut’ in den einst jäh verschütteten Vesuvstädten ein bis in’s Kleinste erhaltenes Culturbild antiken Lebens vor sich sieht, erblickt der Naturforscher auf vorweltlichem Gebiet in jenen Petrefacten das nie und nirgend wiederholte Schauspiel einer bis in’s Subtilste bewahrten vielgestaltigen Kleinthierwelt; man zählt bis jetzt nicht weniger als tausendvierundzwanzig Arten des vor Jahrtausenden versunkenen reichen „Schöpfungstages“! –

Ihrer ersten Wiege, dem Waldboden des Bernsteinwaldes, sodann in Folge nicht völlig aufgeklärter Naturvorgänge (strömende Wasser) eine Strecke weit entführt, wurden jene Harzmassen auf dem Grunde des Tertiärmeeres abgelagert, welches sie nach und nach mit einer bläulichen Thonmergelschicht umschloß und ihren allmähliche Versteinerungsproceß vollzog. Diese jetzt eifrig verfolgte „blaue Erde“, die Bernsteingoldader der heutigen Welt, durchzieht nun, überlagert von den Bodenschichten der späteren Erdbildungs- (Diluvial- und Alluvial-) Zeiten, vermuthlich die ganze Samlandhalbinsel, die sie somit als eine „Meerentstiegene“ kennzeichnet. Im nordwestlichen Theil derselben ist ihr Vorhandensein auf etwa sechs Quadratmeilen Ausdehnung in verschiedener Tiefe, die sich an den Uferbergen bis zu vierzig Fuß unter’m Meeresspiegel steigert, wissenschaftlich constatirt. Bei etwa zehn Fuß Durchschnittsmächtigkeit eine unterirdische Schatzkammer von wahrhaft kolossalem Werth! Woher aber entnimmt das baltische Meer seinen, schon vor Kaiser Nero’s berühmtem Bernsteintriumph

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 363. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_363.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)