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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

ihre Wirkung nicht, bis zur Begeisterung aber stieg in der gehobenen Stimmung des Bankets der Beifall, als Rittershaus in einem durch Inhalt wie Formvollendung gleich ausgezeichneten Stegreifgedichte den üppigen Damenflor feierte. Dieses augenblickliche Commandiren der Poesie, das Goethe von dem Poeten verlangt, steht Rittershaus in einer Weise zu Gebote, daß er getrosten Muthes darauf reisen könnte, und diese besondere Fertigkeit hat sich in Verbindung mit der allgemeinen dichterischen Anlage schon sehr frühzeitig entwickelt. Als der einstmals renommirte Improvisator Langenschwarz 1844 in Barmen eine seiner Vorstellungen gab, erklärte das zehnjährige Bürschchen keck: „Das kann ich auch,“ verlangte ein Thema und schrieb nach kurzem Besinnen drei achtzeilige Strophen nieder.

Die Leser der Gartenlaube erinnern sich gewiß noch des Artikels von Karl Vogt im vorigen Jahrgange über die neuentdeckte Grüner Höhle bei Iserlohn. Das darin mitgetheilte prachtvolle Gedicht hatte Rittershaus bei dem fröhlichen Mahle der aus der Unterwelt wieder Emporgestiegenen einem Höhlenfahrer in die Feder dictirt. Unter ihnen befand sich auch Wilhelm Auffermann aus New-York, der Stifter und Präsident der amerikanischen Schiller- und Humboldtfeier, der sofort den Dichter beauftragte, für letzteres Fest den Prolog zu schreiben, dessen Manuscript Rittershaus dem gleichfalls unter den Bielefelder Ehrengästen Befindlichen an jenem unvergeßlichen Tage übergab. Wie diese Dichtung, von Fanny Janauschek gesprochen, die Hörer hingerissen, und wie sie, für die neue Welt von Freiligrath’s hochbegabter Tochter, Kätchen Kroeker, englisch übersetzt, für die alte Welt aber in diesem Blatte abgedruckt, die Leser diesseits und jenseits des Oceans entzückt und begeistert, ist noch frisch in Aller Gedächtniß.

Jene staunenswerthe Befähigung der Augenblicksdichtung, mit welcher eine gleiche Herrschaft über die freie Rede Hand in Hand geht, und dazu noch eine große gesellige Liebenswürdigkeit, das Erbtheil der früh verlorenen, von dem Sohne in herzensinnigen Liedern betrauerten und verklärten Mutter, haben Rittershaus in den weitesten Kreisen seiner Heimath zu einer ebenso bekannten wie beliebten und gefeierten Persönlichkeit gemacht, wovon ich mich in Bielefeld auf das Genügendste überzeugen konnte. Daraus erklärt es sich auch, daß seit einer Reihe von Jahren fast in keinen Zeitungsberichte über irgend eine Feierlichkeit am Rhein und in Westphalen der Name Rittershaus fehlt.

Unrecht aber würde man ihm thun, deshalb ihn jenen ausschließlichen Gutheilern, Sangesbrüdern oder Schützenkönigen beizugesellen, die in ihrer eintagsfliegenhaften Begeisterung und mit mehr Durst als Witz unter der inzwischen versunkenen Festsonne ihre Luftsprünge machen. Seine ganze Thätigkeit gehört im besten und ernstesten Sinne der Oeffentlichkeit an; die Gemeinsamkeit Aller, dieses Losungswort der Einsichtigen und Ehrlichen, ist auch sein Bannerspruch. Nachdem schon der Knabe die Gluth für Freiheit und Recht in jener vormärzlich unbestimmten Wortfülle ausgesungen, trat mit der sogenannten neuen Aera der jugendliche Mann in die Reihen der Partei, und hat seitdem der Dichter den Freiheitskampf unseres Volkes unablässig mit seinen Liedern begleitet, deren viele weit über die Grenzen des Vaterlandes hinaus in deutschen Herzen eine bleibende Stätte gefunden. Aber dabei begnügte er sich so wenig wie mit Reden in Volks- und Wahlversammlungen; die bittere Enttäuschung, die jenem kurzen Rausch folgte, öffnete auch ihm die Augen über die Unzulänglichkeit rein politischer Bestrebungen und richtete seine Blicke auf die Erziehung und Bildung, auf die geistige und leibliche Förderung Derer, die ein altverjährter Mißbrauch noch immer „das Volk“ zu nennen beliebt, als das Nächstliegende und Dringlichste. Mit rastloser Selbstaufopferung ist er seit Langem für Gründung und Erhaltung von Spar-, Consum-, Arbeiterbildungs- und ähnlichen Vereinen in rheinischen und westphälischen Städten thätig, wie denn jedes auf das öffentliche Wohl gerichtete Bestreben seiner durchgreifenden Mithülfe sicher sein darf.

Und wie er so die Aufgaben unserer Zeit richtig erfaßt hat, ist er selbst zugleich ein Kind und ein Bild dieser neuen Zeit, welche, mehr und mehr von veralteten Vorurtheilen sich loslösend, nur die auf unmittelbare Ziele gerichtete Thätigkeit anerkennt, und Jeden auf dem Platze für berechtigt gelten läßt, auf dem er Tüchtiges leistet. Ganz abgesehen von den zünftigen Staatsmännern, welche durch uneingeweihte Volksvertreter und Volksredner gar oft eines Besseren sich müssen belehren lassen, greift überhaupt auch auf geistigem Gebiete die Gewerbefreiheit immer mehr Platz. Es ist noch gar nicht so lange her, daß das akademische Triennium, mochte es gleich mehr in der Kneipe und auf dem Fechtboden, als in der Hörsälen absolvirt sein, auch zur Erlangung des Bürger- und Meisterrechtes in der Literatur für unerläßlich galt, und das Aufsehen, welches die ersten Freiligrathschen Lieder machten, erhöhte sich dadurch um ein Bedeutendes, daß der Dichter „ein bloßer Kaufmannsdiener“ war. Und er blieb nicht lange vereinzelt. Im Wupperthale, diesem Sitze der großartigsten Industrie und der protestantischen Strenggläubigkeit, dessen eigenthümliche Verhältnisse schon Goethe gelegentlich seines Besuches bei Jung Stilling eingehend bespricht, erstand bald eine ganze Schule dichtender Kaufleute, die zugleich aus naheliegenden Gründen als Vorkämpfer einer freien Richtung auftraten.

Schon vor 1848 wurde der früh verstorbene Adolf Schults, später hauptsächlich durch seine gemüthvolle Familienpoesie beliebt, wegen radicaler Gedichte in der von Marx und Engels zu Paris herausgegebenen „Deutschen Zeitung“ auf Requisition des preußischen Gesandten aus der französischen Hauptstadt ausgewiesen, während er ruhig daheim als Commis am Schreibpulte saß und von da seine Brandraketen schleuderte, ward ein Heftchen socialistischer Lieder von Gustav Reinhart Neuhaus als Teufelsmachwerk von der Kanzel herab in zelotischen Predigten verflucht. Auch Friedrich Engels, der eigentliche Vater des deutschen wissenschaftlichen Socialismus, ist das Kind einer der angesehensten Familien in Barmen. Ihnen, dem begabten, nicht genug gewürdigten Dramatiker Friedrich Roeber, dem Verfasser des „Appius Claudius“, und dem sinnigen Lieder- und Balladensänger Karl Stelter schlossen sich die jüngeren, Karl Siebel, der leider 1868 in der Maienblüthe des Lebens heimgegangen, und Emil Rittershaus, auf das Innigste an, und in dem stattlichen Kreise wirkte der Maler Richard Seel, der geniale Zeichner des Deutschen Michel, als verneinender Geist, der namentlich die Heine’schen und amaranthisierenden Gelüste der Aufstrebenden mit unerbittlicher Schärfe beschnitt und immer wieder auf den gefundenen Boden der Wirklichkeit hin verwies. Ein Genosse jener Tage war auch der Leipziger Capellmeister Carl Reineke, zu dessen neuester Oper „König Manfred“ bekanntlich Friedrich Roeber den Text gedichtet hat.

Studirt hätte nun Rittershaus gern, und zwar Naturwissenschaften, deren bestimmender Einfluß auf die Umgestaltung der alten Zustände dem Frühgereiften nicht entgangen war, aber die Vermögensverhältnisse des Vaters traten dem Wunsche des einzigen Kindes entgegen. Und der junge Dichter, der in der letzten Zeit mit besonderer Erlaubniß der Lehrer die deutschen Aufsätze häufig in Versen geschrieben, auch bereits in Localblättern wiederholt sich gedruckt gesehen hatte, vertauschte die Schule mit dem Comptoir. Frischer Sinn und innere Tüchtigkeit bewahrten ihn vor weichlichen Träumereien über verfehlten Beruf, und er verstand es sehr bald, Pflicht und Neigung zu wechselseitiger Ergänzung in Einklang zu bringen. In sehr frühen Jahren selbstständig, fand er auch Gelegenheit, den alten Wandertrieb zu befriedigen und auf größeren Reisen durch Deutschland, England, Holland, Belgien und die Schweiz nicht nur für seine geschäftlichen Zwecke, sondern auch durch die Bekanntschaft mit den hervorragendsten literarischen, politischen und künstlerischen Größen für die eigene Ausbildung zu wirken.

Gesammelt erschienen seine Gedichte 1855 bei Badeker in Elberfeld, und obschon vom Publicum und der Kritik auf das Günstigste aufgenommen, gelangten sie doch, eines Verlagswechsels und anderer äußerlicher Umstände halber, erst im vergangenen Winter zur dritten Auflage (Breslau bei Trewendt). Die Jugend des Dichters liegt in diesem Buche abgeschlossen vor, und Alles, was ihn auszeichnet, findet sich hier, wenn auch nicht immer schon in der Vollendung, so doch in seinen festen Grundzügen. Vorzüglich bemerkenswerth, besonders beim Rückblick auf die Zeit, der diese Dichtungen zum allergrößten Theile entstammen, ist die Gesundheit, die frische männliche Kraft und jenes unmittelbare Erfassen der Wirklichkeit, das damals unter der Bezeichnung des Realismus noch vielfach als eine Abirrung der Poesie heftig angegriffen wird, gegenwärtig aber immer siegreicher das Feld erobert, nachdem die Poeten sich selbst und die Andern überzeugt haben, daß sie mit dem Leben rechnen müssen, wenn sie für das

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 374. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_374.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)