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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

No. 26. 1870.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Der Bergwirth.
Geschichte aus den bairischen Bergen.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)


3. Beim neuen Einsiedel.

Betäubt, in einer Art schmerzlicher Erstarrung war Juli zurückgeblieben; als sie des flüchtigen Vorganges sich deutlich besann, fuhr sie mit der Hand leicht über die angelaufene Fensterscheibe und verwischte die verrätherischen Zeichen, und ein schwerer Seufzer hob ihr die Brust, er entsprang dem doppelten Schmerzgefühle, daß der Augenblick gekommen war, in welchem es galt, wie den Namenszug im Fensterduft, so auch die Züge seines Trägers in ihrem Herzen auszulöschen, und daß dies doch hart und ebenso unmöglich war, als wollte sie das Herz selbst aus der Brust nehmen. Daß der Vater in der Einsamkeit sich selbst wiedergefunden hatte und mit Gedanken der Milde und Versöhnung zu ihr gekommen war, hatte auf ihr ohnehin erschüttertes Gemüth tiefen Eindruck gemacht – wäre er geblieben und nicht im Unwillen davon gestürmt, sie hätte ihm das Opfer ihrer Liebe noch einmal gebracht, nicht trotzig wie das erste Mal, sondern ergeben und gelassen, wenn auch mit nicht minderem Schmerz. Sie eilte ihm wohl nach, aber sie gewahrte ihn nicht mehr, und eine alte Magd, welche an der Thür beschäftigt war, mußte ihr erst sagen, der Wirth sei an ihr vorbei wie ein Sturmwind, sie habe ihm verwundert nachgesehen, bis er im Walde verschwunden sei. Der Mann sei ihr ganz wunderbar vorgekommen, wie Einer, der nicht recht bei sich selber sei, und so müsse es wohl auch sein, denn einem andern Christenmenschen werde es gewiß nicht einfallen, bei sinkender Nacht in den Wald zu laufen.

Jedes dieser Worte fiel Juli wie eine Centnerlast auf’s Herz; der Vorwurf regte sich in ihr, weil sie ihn nicht zurückgehalten; jetzt erst trat sein Angesicht deutlich vor sie hin; sie sah die sonst gelassenen, fast übermüthigen Züge unter dem Druck ungeheurer Erregung erbeben, und eine entsetzliche peinvolle Unruhe trieb sie aus dem Hause, obwohl die Dunkelheit bereits vollständig eingebrochen war. Sie ging an den Wald und eine Strecke in denselben hinein; sie rief, aber nichts antwortete aus den finsteren Wegen als das Aufflattern eines Vogels, den sie im Einschlafen aufgeschreckt. Sie eilte zurück und lief in steigender Beängstigung nach der andern Seite des Hauses an den Straßenabhang, wo unten eingehüllt in volle laut- und lichtlose Nacht sich die Niederpoint hinzog und das einsame Mühlenthal. Mit fieberisch angespannten Sinnen horchte sie hinüber; es war so still um sie her, daß sie den Schlag ihres eigenen Herzens vernehmen konnte … Da mit Einem Male begann es zu sausen und zu rauschen … trotz der Ungewohnheit und Fremdartigkeit des Lautes erkannte sie denselben bald; er verkündete, immer näher kommend, den in der Tiefe gegen den Bergrand herandampfenden Bahnzug … Sie wußte nicht warum, aber es ward ihr plötzlich, als müsse das Getöse fort und fort wachsen in’s Ungeheure und bis zu ihr heraufdringen und sie mit sich fortreißen in den Vernichtungssturm …

Da schlug es plötzlich in ein wüthendes Geheul um, wie sie nie vernommen, das ihren Herzschlag stocken und das Mark gerinnen machte; zugleich loderte ein greller Feuerschein auf, kurz wie ein ungeheurer Blitzstrahl und doch lang genug, um die alte Magd zu gewahren, die ihr aus Neugier und Besorgniß gefolgt, nun eben recht zur Seite stand, um ihr den Arm zur Stütze zu reichen. „Ihr seid wohl erschrocken, Jungfer?“ sagte sie. „Ist auch nicht zum Verwundern; das war ein Schlag und ein Gebrüll, daß es mir in alle Glieder gefahren ist … Das ist drunten gewesen im Thal; wird doch kein Unglück geschehen sein, drunten auf der neuen Eisenbahn …“

„Auf der Eisenbahn … Jesus Maria …“ stammelte Juli, indem sie plötzlich sich aufraffte und, alle Schwäche bemeisternd, dem Hause zurannte; mit dem Worte war, ohne daß sie selbst wußte wie, der Gedanke an den abwesenden Vater wieder in ihr aufgeblitzt. Aber die Eile hatte weder Zweck noch Erfolg, denn als sie an der dunklen Schwelle stand, war auch im Hause noch Alles lautlos und leer wie zuvor. Langsam, mit schwerer Last von Qualen beladen, krochen die Augenblicke dahin, bis sie Tropfen um Tropfen fallend eine Stunde gleich einem Eimer gefüllt hatten. Da endlich wurde durch die Nacht der Hall eilfertiger Schritte hörbar; Juli flog dem Kommenden entgegen, sie rief ihm zu, aber der Ruf erstarb ihr im Munde, als sie den Nahenden erkannte; es war einer der Knechte, der sich auch einen freien Tag ausgebeten hatte, um die Wunder der neuen Eisenbahn zu sehen und die erste Fahrt mitzumachen. Er sah verstört und erhitzt aus, um den Kopf hatte er ein nasses Tuch gebunden, unter welchem blutige Tropfen auf die Wange niederrannen.

„Der Teufel soll die neuen Geschichten holen und die ganze Eisenbahn dazu!“ erwiderte er auf Juli’s athemlose Frage, woher er komme und was ihm begegnet sei. „Wo werd’ ich herkommen, als von der verfluchten Eisenbahn? … Geb’ mir die Jungfer

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 401. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_401.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)