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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

ging die Thür auf, Gensd’armen und Gerichtsdiener standen vor derselben.

„Guten Abend, meine Herrn,“ sagte der Obernöder, indem er sie wie Gäste begrüßte, „was verschafft mir so spät noch die Ehr’? Kommen wohl von einer Streif’ zurück und wollen sich ein bissel erfrischen. … Kommen Sie nur herein und nehmen Sie Platz – ich will gleich ein frisches Fäßl anstechen …“

„Gebt Euch keine Mühe, Bergwirth,“ entgegnete der Gerichtsdiener, ihm den Weg vertretend, „wir sind nicht wegen der Erfrischung da – wir suchen einen Arrestanten. Macht keine Flausen, richtet Euch zusammen. Ihr wißt recht gut, daß der Arrestant niemand Anderer ist als Ihr selber …“

„Ich?“ rief der Wirth mit einem Gelächter, das ziemlich unbefangen klang. „Ich soll Arrestant sein? Und wegen was? Wer hat was zu fordern an mich – wer kann mir was nachsagen? Er soll nur kommen, ich bin zu finden und laß’ mich finden; ich bin ein unbescholtener hausgesessener Mann, den holt man bei uns zu Land nicht bei Nacht und Nebel wie einen Spitzbuben aus dem Haus!“

„Mach’ der Herr keine Umstände und Weitläufigkeiten!“ rief der Führer der Gensd’armen dazwischen. „Wir wissen so gut wie er, was Recht und Gesetz ist im Land; der Verhaftsbefehl wird nicht lang auf sich warten lassen, einstweilen aber nehm’ ich den Herrn mit auf meine eigene Verantwortung und Gefahr! Wegen was er mein Arrestant ist, kann ich ihm zwar nicht genau sagen: da muß er schon warten, bis man weiß, wie viele eigentlich verunglückt sind und wie viele davon kommen, dann wird man ihm schon sagen, ob ihm der Proceß gemacht wird als Mörder oder …“

„Geh’ hinaus, Juli,“ rief der Bergwirth, der immer mehr die alte übermüthige Kaltblütigkeit wiederfand, denn das Mädchen, das unbeachtet am Fenster stehen geblieben war, gerieth bei der Rede des Gensd’armen in immer heftigere Bewegung und vermochte es nicht, bei dem letzten Worte einen leisen Aufschrei des Entsetzens zu unterdrücken. „Was soll das Wesen und Gethu’ … Wenn ich fort muß, so werd’ ich morgen wieder kommen, Du wirst indessen das Haus hüten …“

„Die Jungfer bleibt,“ sagte der Gensd’arm, „bis wir unser Geschäft abgemacht haben, hat sie draußen nichts zu thun, und wenn der Herr so gewiß ist, daß er morgen wiederkommt, kann er ja um so leichter mit uns gehn; was liegt daran, ob er einmal eine Nacht nicht so bequem schläft, als wie daheim. … Ich will’s dem Herrn wünschen, daß es so leicht abgeht, aber ich glaub’ es nicht. Es ist sogleich, nachdem das Unglück geschehen war, nach allen Seiten untersucht worden; man sah es deutlich, daß der Baum, der auf den Schienen lag und die Entgleisung verursachte; vorher auf dem Abhang über dem Steinbruch, auf der Niederpoint gelegen war, das zerquetschte Gras und das zerstoßene Gestein ließen erkennen, wo er herabgerollt worden war …“

Der Bergwirth begriff, daß ein entscheidender Augenblick gekommen war; mit voller Ruhe trat er dem Gensd’arm einen Schritt entgegen. … „Und wer kann auftreten und sagen, daß ich es gethan hab’? Das ist himmelschreiend, einem ehrlichen Mann so ’was zuzumuthen – da müssen die Stein’ und die Bäum’ eine Zunge kriegen und die Wahrheit sagen!“

„Das haben sie bereits gethan,“ entgegnete der Gensd’arm mit nachdrücklichem Ernst, „bei der Durchsuchung des Platzes fand sich ein silberner Knopf – der den Baum herabgeworfen hat, ist mit der Jacke daran hängen geblieben und hat ihn sich abgerissen …“

Der Bergwirth erbebte. … „Ach was,“ stieß er hervor, „silberne Knöpfe tragen gar Viele, einer sieht dem andern gleich …“

„Allerdings, aber sonderbar bleibt es doch, daß der Herr gerade solche Knöpfe an seiner Jacke hat, und daß gerade in seiner Jacke ein solcher Knopf fehlt und ein Fetzen Tuch, der daran hängen geblieben ist …“

Er zeigte den verrätherischen Knopf in der offenen Hand; das Auge des Bergwirths erstarrte bei dem Anblick, unwillkürlich tastete er nach seiner Jacke, er fand kein Wort, den wortlosen Zeugen zu widerlegen; Julien vergingen die Sinne, einer der Männer fing sie auf, sonst wäre sie zu Boden gestürzt....

Feierliche Stille waltete einen Augenblick: der Engel der Vergeltung flog durch das Zimmer.

Schweigend deutete der Gensd’arm seinem Gefangenen nach der Thür, schweigend folgte dieser, unsicheren Schrittes, das Antlitz von der Blässe des Todes bedeckt. An der Schwelle hielt er inne – wie von einem elektrischen Schlage getroffen richtete er sich in seiner ganzen Kraft auf, und die Farbe der Erstarrung wich der einer wilden, rasch auflodernden Gluth. Unter den vor der Thür Versammelten hatte er auch den verhaßten Feldmesser erblickt.

„Was wollen Sie hier?“ schrie er ihm wüthend entgegen. „Das ist mein Haus, und wenn sie mich von hier weg schnurgerade auf’s Hochgericht führen, in dem Haus bin ich der Herr; in dem Haus haben Sie nichts zu thun! Haben Sie gemeint, es wär’ jetzt die Gelegenheit, sich heranzuschleichen und Ihr altes Spiel zu treiben. … Hinaus, sag’ ich, oder ich vergreif’ mich an Ihnen …“

„Sie thun mir Unrecht,“ sagte Falkner mit ruhiger Würde, „ich bin diesen Männern gefolgt, weil ich nicht glauben wollte, wessen man Sie bezichtigt, weil ich Zeuge Ihrer Rechtfertigung zu sein wünschte, weil ich dachte, in jedem Falle könnte Ihnen oder Ihrer Tochter der Rath und die Hülfe eines Freundes nöthig sein …“

„Ich will nichts wissen von Ihnen und Ihrer Hülfe!“ rief der Wirth wie zuvor. „Ich dank’ für eine solche Freundschaft, die mit schuld ist an all’ meinem Unglück! Und meine Tochter soll einen solchen Freund auch nit haben, und wenn ich nimmer wieder zurückgeh’ durch diese Thür, so soll das mein letztes Wort an sie sein. … Wenn sie nur irgendwie mit Ihnen verkehrt, wenn sie ein Wort mit Ihnen spricht, ja wenn sie nur noch an Sie denkt, so soll sie verflucht sein! Verflucht bis an mein Grab und noch aus der Gruben heraus! Verflucht …“

Der Ton der bekannten Stimme, der Anblick des geliebten Mannes hatte Juli die Besinnung wiedergegeben. Sie trat jetzt dazwischen und reichte ihm die Hand. „Hören Sie nit, was der arme Mann sagt,“ rief sie gerührt und doch entschieden, „unser Herrgott im Himmel wird es auch nit hören, das weiß ich gewiß! Aber gehn Sie, Herr Falkner, und –“ fuhr sie mit schmerzlichem Widerstreben fort, „und – kommen Sie nit wieder … es muß so sein, vergessen Sie, daß ich auf der Welt bin; und – lassen Sie sich’s recht gut gehn in Ihrem ganzen Leben. … Daß Sie in der schrecklichen Stund’ zu uns gekommen sind; wie ein rechter richtiger Freund … ich verdank’s Ihnen tausendmal; für meinen Vater und für mich. … Gehn Sie, Herr Falkner, ich muß schon allein mit Dem fertig werden, was mir aufgelegt ist …“

Er ging ohne Erwiderung, auch zwischen dem Vater und ihr wurde kein Wort mehr gewechselt. Juli lehnte an der Thür; als der traurige Zug in der Nacht verschwunden war, warf sie die Thür in’s Schloß und schob den Riegel vor. „Ich muß allein fertig werden,“ murmelte sie vor sich hin, „und ich will’s!“

Und sie wurde damit fertig.

Als wäre nicht das Geringste vorgefallen, begann sie am andern Tage das Regiment des Hauses und die Aufsicht der großen Wirthschaft zu führen, wie sie es so oft gethan, wenn der Vater verreist war, und gerade so ruhig, als könne er jeden Abend von der Reise nach Hause kommen. Sie war überall und schien weder Ermüdung noch Erholung zu kennen, der erste Morgenstrahl traf sie schon wach, und sie war es, deren Lampe zuletzt im Hause erlosch; ohne es gegen irgend Jemand auszusprechen, hatte sie sich selbst das Gelöbniß gethan, das Gut solle trotz aller Ereignisse, die es getroffen, nicht geringer werden, und wenn ihr Vater, woran sie nicht zweifelte, einmal wiederkehre, solle er dasselbe in gleich gutem Zustande wiederfinden, wie er es verlassen. Das Wirthsgeschäft selber, so glänzend es früher gewesen, war allerdings so gut wie erloschen; es vergingen oft mehrere Tage, ehe ein Gast einsprach, irgend ein Fußreisender, der die Bergwanderung dem Eisenbahnfluge vorzog, oder ein Knecht, der mit einer Holzfuhre aus den Bergen kam. Sie war daher darauf bedacht, den Ausfall durch erhöhten Ertrag der Landwirthschaft zu ersetzen; aber noch ehe die Blätter im nächsten Herbst abfielen, waren auch diese Aussichten verwelkt, und sie erkannte mit Schrecken, daß, was sie unternommen, nicht viel Anderes war, als in ein durchlöchertes Faß zu schöpfen, und in stummem Verzagen gewahrte sie, wie sie nicht nur nichts zu erringen vermochte, sondern wie auch der bestandene vieljährige Wohlstand von Tag zu Tag vermürbte und trotz aller Mühe, ungeachtet alles Fleißes sich zerbröckelte und verschwand. So sehr sie sich mühte, war es unmöglich, die Sorglosigkeit und den Unterschleif herrenloser Dienstboten zu bändigen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 403. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_403.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)