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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

zu kommen sich erfrechen durfte. Auf diesem Altar thronte allein der „Tenorfürst“ Ander, „der Liebling der Frauen“, „der alleinige Träger der Oper“, „die festeste Säule des Wiener Kunsttempels“, und wie die zahllosen Epitheta alle hießen, mit denen ihn die Kritiker Wiens überhäuften; sie hatten ihn zu maßloser, fast an Verrücktheit grenzender Selbstüberschätzung getrieben, freilich ohne daß diese Tollheit größer gewesen, als man sie heutzutage noch bei manchem Tenoristen finden kann. Ander hatte ein „Goldherz“, eine stets offene Hand, eine unerschöpfliche Casse für seine Freunde, eine verschwenderische Freigebigkeit für seine Verehrer, nur durfte keinem von diesen je ein anderer Sänger gefallen haben. Die Namen Tichatschek, Niemann, Sontheim etc. verursachten ihm Zuckungen, die Ueberzeugung von seiner Unerreichbarkeit hatte sich bei ihm krankhaft ausgebildet, bis zu jener Stufe, wo es keine Belehrung, keinen Rath mehr giebt, wo der martervolle Zustand der qualvollsten Ueberhebung nur durch das Ende Heilung findet. Geld hatte für ihn nicht den geringsten Werth, seine Kehle schien ihm ein unerschöpfliches Golkonda, er, der Besitzer dieser Goldquelle, ein Crösus!

Wann eigentlich die sichtbaren Störungen seines lebhaften Geistes sich zu zeigen begannen, ist mir nicht recht klar, denn eine krankhaft ausgesprochene, ich weiß nicht, ob erwiderte, über alle Begriffe heftige Leidenschaft für die Sängerin Tellheim mag vielleicht nur in ihren Folgen auf sein zerstörtes Gemüth Einfluß gehabt haben. Als er nach langer Entfernung von der Bühne wieder zum ersten und letzten Mal in der Oper „Tell“ auftrat, meinten die wohlwollenden Collegen: „Ander ist mit Tell heimgegangen.“ Schon während seiner ersten Erkrankung und nach viermonatlichem Gebrauch der Kaltwassercur überstieg seine Ungeduld, sich dem Publicum zu zeigen, alle Grenzen. Wie ein Rasender drang er in die Canzlei eines hochgestellten Betriebsbeamten und schrie wie toll: „Ich werde dem Salvi zeigen, wer und was Ander ist. Alle seine Tenoristen singe ich todt, denn ich bin und bleibe der einzige Prophet für alle Zeiten.“ – Vergebens warnten ihn, den Reconvalescenten, die Regisseure und Capellmeister vor „zu frühem Auftreten“, wie sinnlos drang er darauf, den „Johann von Leyden“ zu singen; nur mit allen Künsten der Ueberredung und Diplomatie konnte man ihn von der Idee, in dieser überaus anstrengenden Partie sich seinen Verehrern wieder zu zeigen, abbringen und ihn bestimmen, die Rolle des Arnold im Tell zu wählen. Er war’s zufrieden. „Auftreten, nur auftreten“, darnach trachtete sein fieberhaftes, unbezwingliches Verlangen. Er ging zu dem berühmten Arzt Oppolzer, sang diesem etwas vor und erzwang so ein Zeugniß vollkommener Gesundheit. Trotz dem Gutachten der Theaterärzte und der Capellmeister, welche die Mitwirkung des Künstlers noch für verfrüht erklärten, konnte die Intendanz gegen eine Autorität wie die Oppolzer’s nicht ankämpfen, der glühende Wunsch Ander’s ging in Erfüllung.

Es war ein trauriger Abend für die Verehrer desselben, welche den angeblich Wiedergenesenen mit allen nur denkbaren Ovationen empfingen. Weder die Stimme, noch der hinreißend begeisterte Vortrag des „Sangesfürsten“ hatte gelitten, aber das Gedächtniß, das Gehör des Unglücklichen war zerrissen und zersetzt. Wirr und sinnlos vergaß er ganze Stellen, fiel bei anderen unrichtig ein, sang mit den hellen vollen metallischen Prachttönen plötzlich einzelne Passagen ganz allein, außer aller Begleitung des Orchesters, sang fort und fort; unbekümmert um Gott und die Welt, schmetterte er seinen Gesang hinauf in’s Publicum, mit stierem Blick, mit der Ausdauer des Irrsinns; er sang fort, als schon alle Mitwirkenden, auf der Bühne und im Orchester, staunend und entsetzt, aufhörten und mit tiefem, tiefem Mitleid dem armen Sänger zuhorchten.

Er wurde von dem erschütterten Publicum nicht gerufen – hätte dies doch wie Hohn ausgesehen – und weinte nach dem Fallen des Vorhangs bittere Thränen über diese ihm neue und unbegreifliche Undankbarkeit des Publicums. Er reiste und reiste wieder in Kaltwasserheilanstalten, quälte alle Angehörigen, die Direction und seine Collegen mit dem Schmerzensschrei über sein unverdientes Schicksal. Demungeachtet unterhielt er durch Vermittelung dritter Personen den lebhaftesten Briefwechsel mit seiner „Carline“, die ihm noch mehr galt, als Alles in der Welt. Mit der Schlauheit des Irrsinns wußte er die Entdeckung dieser Handlungen vor seiner Frau durch hundert listige Erfindungen fern zu halten; sein ganzes Dasein war nun getheilt zwischen dieser leidenschaftlichen Liebe und zahllosen verzweiflungsvollen Zuschriften an die Direction um Vorschüsse, Darlehen, Aushülfe, Berichtigungen von Curkostenrechnungen und endlosem Jammer über seine fürchterlichen Geldverlegenheiten, über sein elendes Dasein, seine qualvolle Noth, bis endlich die Todesnachricht den Abschluß des Dramas verkündigte. Nach des Künstlers Glück, des Künstlers Ende; ohne Mittelstation, ohne Uebergang der höchste Glanz, der tiefste Fall! –

Man sammelt eben unter den Collegen, um Beiträge für ein Denkmal zusammenzubringen, welches man dem heimgegangenen Künstler setzen will. –

Eines räthselhaften Ereignisses muß ich gedenken, wo plötzlicher grauenvoller Tod inmitten des heitersten Lebensgenusses ein junges Dasein ereilte, im Schleier des dichtesten Geheimnisses, welcher wohl nie gelüftet wird.

Unter vielen Genossen und Freunden, die ich in Berlin während meines dortigen Aufenthaltes erworben, war der Regierungsassessor von Pannewitz mir einer der liebsten und angenehmsten geworden. Frisch, heiter, lebenslustig, einer der verlässigsten und pflichttreuesten Beamten, in sehr günstigen geregelten pecuniären Verhältnissen lebend, ehrenhaft vom Scheitel bis zur Zehe, genoß er die ungetheilte Liebe seiner Freunde, die vollste Achtung seiner Vorgesetzten. Er war Referent für Bauwesen und Theaterangelegenheiten. Die letzte Eigenschaft brachte mich mit ihm in Berührung und in dauernd freundschaftliche Verbindung. Er war der stets gerne gesehene Gast meines Hauses, ich häufig bei Ausflügen und gemeinschaftlichen Partieen der seine geworden, und oft, wenn ich verreisen mußte, drückte ich ihm mein Bedauern durch die Versicherung aus, wie schwer es mir werde, anderwärts für mein Flanirsystem einen so passenden „Sattelgaul“ zu finden, wie er mir einer sei. Dies dauerte eine Reihe von Jahren, ungetrübt und heiter hatte er, nach meinem Dafürhalten, kein Geheimniß vor mir, ich keines vor ihm.

Da führte mich meine Wanderlust nach Paris und London, wir nahmen bei einer Flasche französischen Schaumweins herzlichen Abschied für einige Wochen, unsere Fröhlichkeit sprudelte fast so lustig, wie der Rebensaft in den Gläsern, mit welchem wir auf „heiteres Wiedersehen“ anstießen! – Keiner von uns Beiden ahnte, daß es ein Abschied für’s Leben sein sollte, daß ich dem wackeren Genossen vieler frohen Stunden nie mehr in das offene heitere Antlitz sehen würde.

Die ersten Nachrichten von Hause brachten mir stets Grüße von Freund Pannewitz; einmal schrieb mir meine Frau nach London, Pannewitz sei im Garten gewesen und habe sie benachrichtigt, daß er einen kleinen Ausflug während der Pfingstfeiertage zu machen gedenke, er frug um meine Adresse, und da ihm meine Frau mittheilte, sie wisse nicht genau, ob ich noch in Paris, oder schon, wie ich nach meinem letzten Briefe beabsichtigte, nach London abgereist sei, sprach er sein Bedauern aus, er hätte sich gerne den Scherz gemacht, mir von seiner Spritztour zu telegraphiren.

Wieder vergingen acht Tage, als mir in einem Briefe meines Secretairs die beunruhigende Nachschrift auffiel: „Was sagen Sie zu Pannewitz? Sie sind wohl sehr erschrocken?“ Um das Räthsel dieser mir ganz unverständlichen Phrase zu lösen, telegraphirte ich an meine Frau, mir sofort mitzutheilen, was denn mit Pannewitz vorgefallen, und erhielt mit Wendung der Post die Botschaft, daß Pannewitz seit dem Sonnabend vor Pfingsten spurlos verschwunden sei. Man habe alle seine amtlichen Papiere in der Wohnung und auf dem Bureau in musterhafter Ordnung gefunden, sonst aber keine Ziele, kein Zeichen, nicht die geringste Nachricht, wohin er sich gewendet habe. Auch nicht der Schatten einer unehrenhaften Handlung deutete auf eine Flucht, oder irgend eine Nöthigung aus den ihm so angenehmen Verhältnissen zu scheiden, seine Vermögensverhältnisse waren, wie gesagt, die wünschenswerthesten und geordnetsten, er gehörte einer altadeligen Familie an, sein Vater bekleidete eine der höchsten Stellen in der Provinz, sein Bruder ist Oberforstmeister in Schlesien, mit Allen lebte er in innigster Anhänglichkeit, es lag nur an ihm, wenn er sein liebes Berlin hätte verlassen wollen, als Regierungs- oder Landrath ein von Anderen ersehntes Avancement zu erhalten – kurz, nicht das leiseste Motiv für eine freiwillige Entfernung lag vor, es gelang den rastlosen Bemühungen der Polizeibehörde nicht, die leiseste Spur des Verschollenen aufzufinden.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 406. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_406.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)