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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Ich brauche wohl nicht erst zu versichern, daß der nächste Zug mich bereits auf dem Wege zur Heimath aufnahm. Die ganze Reise zermarterte ich mein Gehirn vergebens, um einen Schlüssel, einen Anhaltspunkt zur Lösung dieses unheimlichen Räthsels zu finden. Er reise nach der sächsischen Schweiz über die Festtage, so lautete die letzte Mittheilung an seine Hauswirthin. Es war eben nur anzunehmen, daß er in einer der unzugänglichen Schluchten dort verunglückt sei.

Sofort nach meiner Ankunft sprach ich den Polizeipräsidenten. Was wir uns mitzutheilen hatten war wenig, wir standen vor einem undurchdringlichen Dunkel. Einzelne Vermuthungen, welche der hohe Beamte mir mittheilte, erwiesen sich als vollständig haltlos bei meiner bessern Kenntniß der Sachverhältnisse.

Die ganze Stadt interessirte sich auf’s Lebhafteste für das Geschick des Verschollenen, der König voran, der täglich nachfragen ließ, ob noch keine Nachricht über Pannewitz erlangt sei.

Nach acht Tagen traf von der Prager Polizei ein Bericht ein, daß auf der Kleinseite auf einem abgelegenen Platze die Leiche eines unbekannten Mannes aufgefunden sei, der durch einen Schuß in’s Herz sein Ende gefunden. So unwahrscheinlich dies auch in Bezug auf den Vermißten klang, so trat sein Bruder, der Oberforstmeister von Pannewitz, doch augenblicklich die Reise nach der böhmischen Hauptstadt an und erkannte in den Ueberresten des Getödteten die des Verschwundenen. Jedes Kennzeichen, das zur Entdeckung führen konnte, war auf’s Sorgfältigste verwischt, aus der Leibwäsche waren sogar die Merkzeichen herausgeschnitten, kein Stückchen Papier wurde gefunden, welches auf die Identität des Verstorbenen hingewiesen hätte. Uhr, Kette und die volle Börse, die man in den Taschen fand, schlossen jeden Gedanken an einen Raubmord aus; das abgeschossene Pistol, welches man früher nie in dem Besitz von Pannewitz gesehen, lag neben der Leiche, die Kugel war mitten durch’s Herz gegangen.

Da bei dem lebenslustigen heiteren Gesellen von freiwilligem Abschütteln der Lebensbürde, von irgend einem schweren Kummer keine Rede sein konnte, so war nur Eins anzunehmen: „ein amerikanisches Duell“, jene tückische Erfindung der Feigen. Und wirklich waren nach der Aussage der vieljährigen Hauswirthin des Opfers ungefähr drei Wochen vorher zwei Herren erschienen und hatten darauf gedrungen, daß Pannewitz, der gern lange zu schlafen pflegte, geweckt werde. Die Fremden sprachen prononcirt stark den österreichischen Dialekt und waren nie früher in der Wohnung des Pannewitz gewesen. Die Besitzerin derselben hörte laut und heftig sprechen, dann entfernten sich die Herren finster und schweigend. Acht Tage später erschienen sie wieder, aber gegen seine Gewohnheit war Pannewitz schon um sechs Uhr früh auf und, dieselben offenbar erwartend, bereits angekleidet. Nach kurzer Frist, in welcher leise Verhandlungen gepflogen wurden, entfernten sich die unheimlichen Gäste wieder. Nie hat man erfahren, wer sie waren und welchen Zweck ihr Besuch hatte. Kurze Zeit darauf fiel die angebliche Ferienreise mit dem tragischen Ende Pannewitz’ zusammen.

Es war ein gar trübes Mittagsmahl, welches der Bruder des Heimgegangenen bei uns einnahm, als er von seiner Prager Reise zurückkehrte, wo er die Leiche recognoscirt hatte. Die Kugel war mitten durch’s Herz gegangen; an einem düstern einsamen Platze lagen die Ueberreste des Mannes, dem im Leben kein Ort heiter und besucht genug sein konnte; im fremden Lande, das er nie vorher betreten, wurde die Leiche in die Erde gesenkt.

In hundert und hundert Vermuthungen erging sich unsere Theilnahme an dem räthselhaften Geschick des Unglücklichen; nicht der kleinste Anhaltepunkt erwies sich als stichhaltig. Eine vage Hindeutung des Bruders auf etwaige Folge einer Differenz, die Pannewitz mit einem früheren österreichischen Officier hatte, mußte ich entschieden in Abrede stellen, da der kleine Zwiespalt in meiner Gegenwart in für beide Theile ehrenhafter Weise ausgeglichen war! – Nichts, nichts ergab sich, was den Vorfall erklärt hätte. Die abenteuerlichsten Gerüchte circulirten im Publicum, in allen Kreisen, ohne daß irgend ein Grund dafür sich finden ließ.

Vielleicht findet sich unter den zahllosen Lesern dieser Blätter einer, der eine Spur dieses Geheimnisses findet oder kennt, der die Mysterien enthüllen kann, welche den einsamen Grabhügel an der Moldau decken und die Nemesis weckt, die mit dem armen Todten zu schlummern scheint bis zu jenem Tage, wo Alles offenbar wird. –

Am 3. September 1857 war ein heiteres Leben in dem sonst so stillen Musenhofe Weimar. Den folgenden Tag sollten die Standbilder eingeweiht werden, mit welchen der geniale Meister Rietschel die unsterblichen Dichtergestalten unseres Schiller und Goethe mit ebenbürtigem Meißel verewigt hatte, und auch von Hans Gasser’s „Wieland“ sollten die Hüllen fallen, die es umspannt hielten. Der Vorabend des Doppelfestes versammelte in den Räumen des Russischen Hofes ein gar lustiges Künstlervölkchen. Der kurze stämmige Auerbach, welcher behauptete, neben dem langen Dingelstedt die auffallendste Aehnlichkeit mit einem „Kameelführer“ zu haben, Bogumil Dawison und Emil Devrient, welche herbeigeeilt waren, um durch ihre genialen Leistungen die morgige Festvorstellung in Wirklichkeit in eine solche zu verwandeln, Liszt, damals noch nicht Abbé, Heinrich Marr mit seiner geistreichen Gattin, Gerstäcker, zufällig in Europa anwesend, ja wer nennt sie alle, die Namen, deren Träger zu der großen Nationalfeier sich versammelt hatten und den Vorabend zu derselben in gar toll-lustiger Weise begingen. Einer der Tollsten unter den Tollen, der Fröhlichsten unter den Frohen, war ein Mann im besten Mannesalter, dessen gebräuntes Antlitz ein getheilter Guttenbergbart zierte, der, nach den gelenken, sehnigen Muskeln zu urtheilen, aus dem Holze geschnitzt schien, aus welchem der Mensch hundert Jahre alt wird. Als die Heiterkeit den Culminationspunkt erreicht hatte, machte er den Vorschlag, dem verehrten Meister Rietschel, der sich, im Hause wohnend, früh zur Ruhe begeben hatte, eine Serenade zu bringen. Auf meine Erkundigung erfuhr ich, daß es der Bildhauer Hans Gasser aus Kärnthen sei, von dem dieser mit Jubel aufgenommene Antrag ausging.

Ein Charivari der burleskesten Art wurde dem Dresdener Meister als seltsame Ovation stets mit dem Refrain: „Hoch soll Rietschel leben, Rietschel lebe hoch!“ vor dessen Thür improvisirt. Im primitivsten Costüm, malerisch mit einem Bettlaken drapirt, erschien dieser unter seinen Verehrern und frug, indem er Miene machte, den Leinenmantel, unter welchem die nackten, sandalenlosen Beine hervorguckte, zurückzuschlagen: „Ich danke Dir, deutsches Volk; wünschest Du die Enthüllung heute schon?“

So wirkungslos sich alles das in der Erzählung wiedergiebt, so frisch und eindrucksreich machten sich die Vorgänge in Wirklichkeit, wo jeder Scherz von tobendem Gelächter belohnt, jeder Witz mit dankbarem Jubel aufgenommen wurde.

Ueber das Fest selbst ist seiner Zeit so viel geschrieben worden, daß eine Wiederholung hier wohl nicht am Platze wäre. Ergreifend war der Moment, als die Hüllen von der Arbeit des genialen Rietschel fielen, und fast in gleichem Moment die bis dahin von Wolken bedeckte Sonne ihre hellen Strahlen auf das Gebilde unserer großen Dichter warf, als der Großherzog mit weittönender Stimme den Bildner zu sich rief und im Angesichte des Volkes umarmte; da blieb kaum ein Auge thränenleer, und donnernde Vivatrufe, den Heroen der Dichtkunst, dem Bildner und dem Herrscher geltend, erfüllten die Luft. Fast dauerte mich der schlichte Hans Gasser, der in der Blouse des Arbeiters seitwärts stand, und dessen einfaches Werk, „die Wielandsstatue“, freilich neben der großartigen Leistung des berühmten Meisters an Wirkung verlieren mußte. Sehr komisch erschien mir das Bestreben Dawison’s, den Ehrenplatz an der rechten Seite des Theaterintendanten abzulehnen und links zu bleiben, weil auf der ihm zugetheilten Stätte der Regen zwei hübsche Pfützen zurückgelassen hatte, in welche er nicht treten wollte. Die sarkastischen Fragen des Künstlers, „ob heute die ganze Armee Weimars ausgerückt sei,“ was ganz ernsthaft bejaht wurde, oder „ob hier die Bewohner Weimars versammelt seien,“ indem er auf eine menschenleere Straße deutete, amüsirten mich höchlich.

An anderen drastischen Zwischenfällen war kein Mangel. Als z. B. der Bürgermeister beim Festbanquet einen Toast auf die anwesenden „Fremden“ ausbrachte, antwortete einer der Genossen mehr grob als nöthig, „daß er gegen diesen Trinkspruch Protest einlege, es seien keine Fremden hier, es seien Deutsche, die gekommen wären, um das Andenken der größten Dichter Deutschlands zu feiern, ob das Nest, wo dies geschehe, Weimar oder Buxtehude heiße, sei für die Sache gleichgültig.“

Auch sonst passirte viel Menschliches in der guten Musenstadt. Ich war mit meinen beiden Begleiterinnen vom Wohnungscomité zu einem Kaufmann W. gewiesen worden, wo wir zwei Zimmer erhielten, in welche zwei von uns in Betten, die dritte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 407. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_407.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)