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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)


„Wer sie sind,“ bemerkte der Pastor, „das ist nicht schwer zu errathen. Es sind Emigranten, die jetzt, wo sie heimkehren dürfen, nach Frankreich zurückreisen. Dabei wird ihnen der Zehrpfennig ausgegangen sein, und da der Herr Pfarrer Bedenken getragen haben mag, sie mit einem Zuschuß weiter zu fördern, werden sie unserm jungen Grafen die Gunst zuwenden, sich um das gute Frankreich verdient machen zu können, das ja doch nicht eher glücklich ist, als bis es alle seine edlen Ducs, Vicomtes und Marquis richtig wieder hat.“

Annette schüttelte den Kopf.

„Emigranten mögen sie sein,“ sägte sie, „aber der Herr Pfarrer hätte sie sicherlich nicht in’s Schloß geführt, falls sie den Grafen belästigen wollen. Ich denke, er hütet sich.“

„Sie haben all’ ihr Gepäck abladen und vorn im Hausflur niedersetzen lassen,“ erzählte der Caplan; „just als ob sie länger bei uns zu bleiben gedächten.“

„Nun,“ fiel der Pastor mit einem bösen Lächeln ein, „wer weiß denn, wer sie sonst sind! Die junge Dame ist sehr schön und sieht sehr ernst und selbstbewußt darein. Vielleicht kommt der Besuch dem Herrn Grafen nicht just überraschend – möglich auch, daß er sehr überraschend kommt! Möglich auch, daß eine Zeit kommt, wo solche Besuche auf dem Schlosse auch uns nicht mehr überraschend kommen. Man muß es abwarten. Vorläufig wollen wir uns den Kopf nicht darüber zerbrechen.“

Annette stand auf.

„Jetzt muß ich heim,“ sagte sie, „vielleicht wäre ich gar nicht gekommen, hätt’ ich gewußt, daß der Pastor hier im Garten säße und einmal wieder so recht im Zuge wäre, lauter böse Dinge vorzubringen – Adieu, Caplan, ich muß heim, damit die Mutter nicht merkt, daß ich fortgelaufen bin; ich komme morgen früh in Ihre Messe; und nachher schau’ ich nach, ob Sie Ihre Stockrosen auch hübsch begossen haben. Adieu, adieu ...“

Sie war schon mit rascher Wendung halb zur Laube hinaus, ehe nur noch der Caplan sich erröthend erhoben hatte.

„Weshalb begleiten Sie sie nicht zum Garten hinaus und bis an’s Gitterthürchen, Caplan?“ sagte der Pastor mit feinem Lächeln und boshaften Augenzwinkern. „Es hätte Ihnen noch einen zärtlichen Händedruck zum Abschied eingebracht.“

Der Caplan antwortete nicht; er sah ihr nach, dann ging er in der That Wasser zu holen, um seine Pflanzen zu begießen; und als er sie getränkt, stand er lange, die Gießkanne in der Hand, zwischen den Beeten, den Blick, wie in Nachdenken verloren, auf die welken Blätter heftend. Woran dachte er ... an seine Behauptung von vorhin, daß gute und starke Naturen durch den Kampf gestählt und gehoben, daß tüchtige Menschen durch das Leid geläutert werden?

War es das, so mußte es sehr lange sein Sinnen beschäftigen; er stand noch träumend da, als schon der Herr Pfarrer vom Schlosse zurückkehrend in den Garten trat. Er kam allein zurück und sah sehr ernst und nachdenklich aus, der Herr Pfarrer; der Caplan wagte nicht ihn anzureden.

(Fortsetzung folgt.)




Ein Veteran der classischen Musik.

Am Abend des 26. November 1846 bot die Treppe des „Gewandhauses“ zu Leipzig einen seltsamen Anblick. Vor der noch geschlossenen Eingangsthür des Saales stand auf allen Stufen und Absätzen der breiten Treppe, zwei Stockwerke herab, eine dicht gedrängte Schaar eleganter Damen und Herren – zum Theil den ersten Familien der Stadt angehörend – alle sehnsüchtig des Augenblickes harrend, an welchem ihnen der Eintritt in den Concertsaal endlich gestattet werden würde.

Die damals unter Mendelssohn’s Leitung so ausgezeichneten Abonnements-Concerte des Gewandhauses hatten die Einfachheit der äußeren Erscheinung noch nicht völlig verloren. Im März 1743 von sechszehn Musikfreunden begründet, von ihrem Stifter, dem Buchhändler Gleditsch geleitet; trugen sie anfänglich den Charakter geselliger Familienzusammenkünfte in so hohem Grade, daß nur die Gründer eine Eintrittskarte besaßen, während nach dem Wortlaute der Bekanntmachung „das Frauenzimmer“, sowie nicht minder die „reisenden Passagiers“, freien Eintritt hatten. In gleich ungezwungener Weise verkehrte man im Innern des Saals mit einander. Von dieser Zwanglosigkeit hatte sich noch hundert Jahre später ein gutes Stück erhalten. Zwischen den einzelnen Musikstücken machten sich Freunde gegenseitig Besuche; in der großen Pause zwischen den beiden Theilen erhoben sich Damen und Herren von ihren Plätzen, und das Surren eines riesigen Bienenschwarmes wurde durch das lebhaft geführte Gespräch der Nachbarn hervorgerufen. An Sperrsitze war noch nicht zu denken. Wer also einen Platz nach seinem Wunsche haben wollte, der war gezwungen, möglichst früh sich einzufinden, wo noch die Wahl unter den Plätzen freistand. An jenem Tage aber war die Anzahl derjenigen besonders groß, welche Anderen den Rang abgewinnen wollten, und deshalb schon vor Eröffnung des Saales auf der Treppe erschienen waren; denn – es hatte sich am Morgen wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreitet, daß Moscheles, der berühmteste Pianofortespieler und Claviercomponist, der hervorragendste Veteran der classischen Richtung der Musik, der Meister des Legato-Spieles, auf dessen Schultern die Virtuosen standen, deren Technik man in den vergangenen Wintern bewundert hatte, den Zuhörern einen Pianoforte-Vortrag gewähren wolle. Wir Jüngern aber wollten diesen Genuß auskosten, so gut wie möglich, und wollten so sitzen, daß uns keine Hand- und Fingerbewegung verloren ging.

Moscheles war erst einige Wochen vorher von London nach Leipzig übergesiedelt. Seinem Schüler und Freunde Mendelssohn war es gelungen, ihn dem Vaterlande wieder zu gewinnen und zugleich dem von ihm in’s Leben gerufenen „Conservatorium der Musik“ den hervorragendsten Lehrer zu verschaffen.

Oeffentlich als Pianofortespieler aufzutreten, lag nicht in Moscheles’ Plane. So hatten nur Wenige, und auch diese nur selten, Gelegenheit ihn zu hören. An jenem Tage aber hatte „im 7. Abonnements-Concert“ R. Wehner aus Dresden ein Pianoforte-Concert spielen sollen. Erst am Tage vorher in der Probe traten unüberwindliche Hindernisse dagegen, und um die Concert-Direction aus einer Verlegenheit zu befreien, dem gebildeten Hörerkreise eine Freude zu machen, entschloß sich Moscheles, der beabsichtigten Zurückgezogenheit zu entsagen und an Stelle des jugendlichen Virtuosen einzutreten.

Durch eine mit seltener Liebenswürdigkeit gewährte Aushülfe und mit freundlichem Entgegenkommen für die Wünsche Anderer, führte sich der Hochberühmte und Vielgefeierte in den Kreis der Leipziger Musikfreunde ein. Es kann natürlich nicht Absicht der „Gartenlaube“ sein, heute, nachdem bereits alle bedeutenderen Journale den Lebensgang des berühmten Verstorbenen in mehr oder minder ausführlicher Weise geschildert haben, noch mit derartigen biographischen Mittheilungen nachzuhinken. Wir hoffen unsere Leser vielmehr in anderer Weise reichlich zu entschädigen, wenn die von Moscheles hinterlassenen und am Schlusse diese Artikels erwähnten Aufzeichnungen zur Veröffentlichung vorbereitet sind. Der Zweck dieser Zeilen ist lediglich, heute schon ein deutliches Charakterbild des wackeren Mannes zu geben, auf solche Art wenigstens vorläufig seinem Andenken gerecht zu werden. Denn Moscheles war nicht nur berühmt, er war auch beliebt; und man muß jetzt, nachdem ein Vierteljahrhundert nach dem Eingangs dieser Skizze erwähnten Tage verflossen ist, bekennen, daß die nämliche wohlwollende Freundlichkeit ihn ausgezeichnet hat in allen Lagen des Lebens, und daß es kaum Jemand geben kann, der sorglicher immer darauf bedacht war, die irgendwie berechtigten Wünsche und Ansprüche Anderer zu erfüllen. Dieses rücksichtsvolle Entgegenkommen für die Eigenthümlichkeit Anderer war bei aller sonstigen Energie ein Grundzug im Charakter des Mannes.

Auch auf musikalischem Gebiete bewährte er diese Charaktereigenthümlichkeit. Gebildet in Wien, unter den Einflüssen der classischen Epoche der Donaustadt, vertrat er immer den Grundsatz, daß keine Kunstleistung, weder die schaffende noch die ausübende, der anmuthigen und wohlgegliederten Form entbehren dürfe. Besonders bei musikalischen Compositionen hielt er Correctheit und Schönheit der Kunstformen nebst klarem Ausdruck der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 420. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_420.jpg&oldid=- (Version vom 14.12.2020)