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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

indem ich ihn in das Archiv voll alter Pergamente führe; ich selbst habe mich noch nicht das Mindeste darum gekümmert; aber da der Vicomte ein Freund dieser Sachen ist, bin ich überzeugt, daß er ein Interesse daran findet; für die Geschichte unserer gemeinsamen Familie wird es alle möglichen Materialien und Aufschlüsse geben.“

„Sie beweisen mir ein außerordentlich großes Vertrauen, Herr Graf, das ich sicher nicht mißbrauchen werde,“ sagte der Vicomte.

„Ein Vertrauen?“ fiel Graf Ulrich ein. „Wie so? Haben Sie nicht am Ende ein Recht darauf, auf diesen alten Plunder, und wie könnten Sie es mißbrauchen?“

„Ich könnte es in der That nicht,“ entgegnete der Vicomte, „schon wegen der ritterlichen Weise, in welcher Sie selbst mir Ihre Familienpapiere zur Disposition stellen. Die Einsicht in dieselben muß mir jedoch um so willkommener und werthvoller sein, als mir selbst alles und jegliches Material der Art fehlt; unsere Papiere sind während der Revolution zerstört, verbrannt; ich habe mich mit meiner verstorbenen Frau und meinem Kinde mit falschen Pässen zum Lande hinausschleichen müssen; wenn ich heimgekehrt sein werde, um meine Ansprüche auf jene Besitzung im Berry zu erheben, wird es mir sogar schwer werden, auch nur meine Identität zu beweisen, falls man es dabei sehr genau nehmen wollte.“

„Sind Sie so ganz außer Beziehungen zu Verwandten und Standesgenossen gekommen, die doch in großer Anzahl zugleich mit Ihnen Frankreich verlassen haben, und deren viele mit Ihnen dieselben Wege, nach dem Norden, zogen, um dort eine Zuflucht zu finden?“

„Leider,“ versetzte der Vicomte, „wir sind damals in die Irre gestreut worden und haben einander aus den Augen verloren. Um bei diesem großen sauve qui peut die allgemeineren Interessen und die Personen im Auge halten zu können, war ich zu arm: meine Gemahlin, die Vicomtesse de la Tour de Bussières, hat als Stickerin, ich habe als Sprachlehrer leben müssen. Ach, und der Sprachlehrer gab es in den Orten, wo wir Emigranten überhaupt nur Aufnahme fanden, so viele! Ein Paar ältere Freunde sind, der eine schon vor der Rückkehr, noch in Deutschland, der andere kurz nach der Heimkehr in Berry gestorben. Die Hauptquelle unserer Nachrichten von daheim sind die Briefe eines jungen Mädchens, der Freundin meiner Tochter, die mit einer Tante eine Zeit lang in derselben Stadt mit uns das Brod der Verbannung aß. Doch hoffe ich freilich, daß mein Name mir, wenn ich nach Frankreich zurückgekehrt bin, hinreichende Sympathien und Freunde zuführen wird …“

„Es würde mich freuen,“ sagte Graf Ulrich mit ungeheuchelter Theilnahme, „wenn ich irgend etwas thun könnte, um dort Ihnen Ihre Aufgaben zu erleichtern!“

Der Vicomte verbeugte sich.

„Sie sagen,“ fuhr der Graf fort, „daß eines Ihrer Güter nicht als National-Eigenthum verkauft ist; das ist freilich ein Glück; aber es hängt dennoch viel davon ab, in welche Hände es gerathen, denn gewiß hat man weder das Haus unbewohnt, noch das Areal unbebaut gelassen, und es werden Leute da sein, die sich da während Ihrer Abwesenheit mehr oder minder festgewurzelt haben. Haben Sie Ihr Recht dargethan, so wird freilich die Regierung des Kaisers, der Maire, der Friedensrichter – wir haben diese Leute jetzt auch hier – Ihnen behülflich sein, es durchzusetzen; aber immerhin wird viel auf den Charakter der Leute ankommen, denen Sie entgegen treten müssen …“

„Leider,“ fiel der Vicomte ein, „entwickeln die Leute, denen wir entgegentreten müssen, um ihnen einen Besitz zu nehmen, gewöhnlich einen und denselben Charakter!“

„In der That,“ sagte der Graf lachend, „den Charakter der Streitlust und Hartnäckigkeit! Aber es giebt dabei doch Unterschiede. Ich kann mir zum Beispiel recht gut denken, daß Sie, Herr Vicomte, wenn man auf ein wirkliches Recht hin Ihnen einen Besitz nehmen wollte, mit weiser Gelassenheit sich in die Thatsachen fügten, während ich mir doch dabei einige Anfälle von Berserkerwuth zutraute, falls man zum Beispiel kommen wollte, mich aus diesem Schlosse zu werfen – ich glaube, ich wäre ein unliebenswürdiger Gegner und im Stande, solch einen unglücklichen Berechtigten zu erdrosseln oder zum Fenster hinauszuwerfen oder todt zu …“

Der Graf, der diese Worte lachend wie eine ziemlich unbedachte Rodomontade zu sprechen begonnen hatte, hielt plötzlich inne; er fuhr mit der Hand über das Gesicht, und als er sie wegnahm, schien es ein wenig blasser geworden – wenigstens waren die Züge jetzt sehr ernst und das Auge schaute zerstreut oder nach innen gekehrt.

(Fortsetzung folgt.)




Altdeutsches Rügegericht in den Harzer Bergen.

„Kommen Sie mit, Doctor! Es gilt nichts weniger als einen Ritt in das altromantische Land.“

„Bitte, lassen Sie die Hippogryphen anschirren, ich bin bereit!“

Ein Stündlein Romantik ist nach der ledernen ärztlichen Praxis und der Alltagspoesie der Giftmorde durch Opium, Strychnin oder Sublimat ein Genuß, wie ein Glas vollen Burgunders bei einer trockenen und zähen Hirschkeule. Aber wohin? Wo giebt es noch Romantik in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts? Oberon und Titania sind nachweislich auf einen seligeren Planeten übergesiedelt und setzen ihr Geschäft der Heirathsvermittelung wahrscheinlich auch dort fort. Romantik der Liebe? Ja, sie ist längst begraben, wie die zahlreichen „reellen Heirathsgesuche“ in den Zeitungen beweisen. Und die Romantik des Glaubens? Ach, die lebt noch, aber es ist die gefährlichste Romantik, in die sich das schwärmerische Gemüth des Menschen verlieren konnte.

Nein, unser Ziel ist ein anderes, unser romantisches Land liegt anderwärts als in den Pontinischen Sümpfen, wo die letztgenannte Romantik ihr Lager aufgeschlagen hat; es liegt in einem lieblichem Thale unserer Harzberge, wo Recht und Gesetze walten, wo biedere, deutsche Gesinnung pfäffischer Sophisterei spottet, wo Liebe und Friede thront, wo sich die Vorzeit die Hand reicht mit unseren modernen Tagen in mittelalterlichen Formeln, in einer alterthümlichen Institution, wie eine zweite bei uns in Deutschland nicht mehr besteht, in dem sogenannten Klage- und Rügegericht zu Volkmanrode.

Nehmen Sie Platz in unserm Wagen, meine verehrten Leser! Das Wetter ist zwar nicht sehr einladend, aber Jupiter Pluvius wird hoffentlich nicht gar zu rücksichtslos sein, und gegen die Kälte giebt es eine vortrefflich wirkende, innerliche Arznei, die Sie gewiß Alle kennen. Von Harzgerode aus, der Marmorstadt des Herrn Bädeker, geht es auf dem südöstlichen Hochplateau des Unterharzes durch Eichen- und Buchenwaldung nach dem schöngelegenen Harzdörfchen Schielo. Fleißige Korbflechter wohnen dort, still für sich, zurückgezogen vom Gewoge und unbekannt mit den modernen Bedürfnissen der großen Welt. Wir fahren weiter. Grüne Saaten und wogende Getreidefelder zeigen uns, daß auch Ackerbau und Viehzucht hier im Schwunge sind. Schon nach einem halben Stündchen sind wir in Molmerswende. Wer hätte nicht schon von dem Dörfchen Molmerswende gehört? Da dicht am Wege steht die Kirche, rechts davon die alte, mit ihrem Giebel nach der Straße schauende Pfarrei, wo der Dichter der Lenore zuerst das Morgenroth eines lichteren Zeitalters erblickte. Aber weiter, vorbei an den Eisengruben von Tilkerode, weiter über Berg und Thal, über Bach und Bächlein. Bald tritt der prachtvolle Buchenwald zurück, es wird licht, die Bäume werden seltener und vor uns breitet sich ein liebliches Thal aus, rings von Bergen umschlossen, von Laubwald eingehegt, in dem das Eine-Flüßchen dahinmurmelt durch grüne Wiesenmatten, um seine Wasser in den Wipperfluß zu tragen.

Wir sind zur Stelle. Nur noch den Berg hinab in’s Thal und wieder hinauf zu einem auf der entgegengesetzten Seite etwas hervorspringenden Bergkegel, und da stehen die altehrwürdigen Linden, die schon Jahrhunderte diese Stätte beschatteten, die Ruinen einer verfallenen Kirche, die „wüste Kirche“ genannt, und das Jagdhäuschen, unter dessen überdachter, von der Seite aber offener Veranda sich die Göttin der Gerechtigkeit eine Gerichtsstätte gegründet. Das ist Volkmanrode, das Ziel unserer Walpurgisfahrt; denn heute, an Walpurgis, wird hier auf freiem Felde und vor allem Volke in der Weise Gericht „gehegt“, wie sie unsere Väter vor vielen hundert Jahren schon geübt haben und wie sie sich sonst nirgends in ganz Deutschland erhalten hat. Es ist ein altes Stück deutschen Rechtes, das hier seltsam genug in die Gegenwart hineinragt und das darum unsere vollste und aufmerksamste Beachtung verdient.

Nach den alten Chroniken hat auf der jetzigen Wüstung Volkmanrode ein Dorf gestanden, dessen nach der Angabe des

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 436. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_436.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)