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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

der Form eines Sarges, auf denen Gestorbene aus der Umgegend bis zum Begräbniß gelegen waren, und die man an möglichst belebte Orte stellt, damit recht viele der Vorübergehenden ihrer im Gebete denken mögen. An einem kleinen Felsstück, das sich dahin verirrt, war ein solches Brett aufgestellt und sah, überhangen von den paar Sträuchern, die sich an den Stein geklammert hatten, wie ein kleines freundliches Denkmal.

Ein solches war es auch; es galt einer Unbekannten, die bei Nacht durch den Sumpf gewandert, vom Wege abgekommen und versunken war, Niemand würde sie gewahr worden sein, hätte nicht der stöbernde Hund eines Jägers den Scheitel aufgespürt, der noch aus dem Pfuhl hervorragte. Niemand wußte, wer sie war, von Niemand geschah eine Nachfrage nach ihr; es mußte Niemand gelebt haben, der sie vermißte. Auch Juli hatte das oft erzählen gehört, sie war oft des Weges gekommen und an dem Todtenbrett der Unbekannten stillgestanden; es war ihr so unendlich traurig vorgekommen, so ganz verlassen und verloren zu sein in der Welt, und heute stand sie wieder da und es wandelte sie an wie eine Ahnung, als gebe es doch noch ein größeres Elend und tieferes Leiden.

Es dämmerte stark, als sie die ersten Häuser des Marktes erreichte; ihr war es lieb, weil sie hoffen durfte, von Niemand, der sie etwa kenne, gesehen zu werden. Vor einem ansehnlichen Brauhause hielt sie an, es dünkte ihr ein gutes Zeichen, daß vor demselben ein paar hübsche Kinder saßen, einen Wust von frisch gepflückten Wiesenblumen neben sich, die sie verzupften und in kindisch unbedachter Weise zerstörten. Sie setzte sich wartend und unentschlossen auf die Steinbank neben die Kinder und war bald in deren Spiel gezogen. „Ihr müßt die Blumen nicht zernichten,“ sagte sie, „zu dem hat der liebe Gott sie nicht so schön wachsen lassen. Wenn er das gewollt hätte, hätt’ er Alles fein gleich und grün wachsen lassen, wie es das Thier hineinfrißt; damit die Kinder eine Freude haben und schön spielen sollen, hat er Blumen geschaffen und hat ihnen die schönen Farben gegeben und die Glocken gemacht und die Sterne und die Träubeln ... Schaut mir einmal zu, ich will Euch zeigen, wie Ihr einen schönen Strauß binden könnt …“ Die Kinder, von einer guten, aber ein bischen verwilderten Art, sahen der anmuthigen Belehrung, die ihnen wohl selten so zu Theil wurde, mit ruhiger Neugier zu, und auch Juli war es eine angenehme Unterbrechung ihrer Trübsal, einen Augenblick mit Blumen und Kindern zu sein.

Eine Frau mit gutmüthig gleichgültigen Zügen war unter den Thorbogen getreten, ohne daß sie deren gewahr geworden; sie sah eine Weile wohlgefällig zu und trat dann freundlich näher. „Guten Abend,“ sagte sie, „Du kannst gut mit den Kindern umgehn, Mädel; das weiß ich lange nicht, daß sie Jemand so zuhören und stillsitzen … ich wollte, ich hätte Jemand Solchen, der mir darauf Acht giebt; ich hab’ keine Zeit, und der zehnten Person kann man sie auch nicht anvertrauen … da werden sie denn wild und wachsen auf – verzeih’ mir’s Gott, bald hätt’ ich gesagt, wie das liebe Vieh! Wo kommst Du her, Mädel, und wo willst Du hin?“

„Ich bin da droben beim Westerberg daheim,“ erwiderte Juli ausweichend, „und bin unterwegs einen Dienst zu suchen …“

„Einen Dienst!“ rief die Frau erfreut. „Das trifft sich ja prächtig … Du gefällst mir, Mädel, und siehst auch sonst anstellig aus, ich behalt’ Dich, wenn es Dir recht ist, und das vom Fleck weg …“

„Mir ist es gleich,“ sagte Juli ergeben, „Ihr werdet finden, daß ich wohl zu brauchen bin; ich will wohl bei Euch bleiben, Ihr habt ein gutes Gesicht, Frau, und werdet es nicht Lügen strafen …“

„So komm’ herein in’s Haus, setz’ Dich in die Stube mit den Kindern; es wird ganz finster und das Wetter kann auch jeden Augenblick losbrechen … ich will Dir was zu essen geben, und dann können wir Alles gleich festmachen miteinander, wie’s Recht und Brauch ist. … Ich bin so froh, daß ich Dich gefunden hab’, als wenn ich ein G’schloß geschenkt bekommen hätt’ …“

Die Fräu nöthigte sie in die Stube; es war noch dunkel darin, noch hatten die kleinen Marktbürger sich zum Abendtrunke nicht eingefunden. Eben läutete es zum Ave Maria, in die ersten Töne des Glöckleins schmetterten auch die ersten Donner des furchtbar sich entladenden Gewitters und ein starker Regen platzte aufspritzend auf das Pflaster nieder.

Die Wirthin kam bald wieder mit Licht und Essen, die Kinder waren gleich nicht mehr von der neuen Magd gewichen und hingen ihr fragend und kletternd am Gewand. „Iß derweil,“ sagte sie, „und laß Dir’s schmecken; Hunger darf bei mir Niemand leiden! Ich muß nur noch in der Küche nachsehn, dann bin ich gleich wieder da! …“

Ein Mann, vom Regen in’s Haus gescheucht, trat in die Stube und schwang fluchend den nassen Hut aus; es war Einer von denen, die bei der Versteigerung im Bergwirthshause gewesen. Er ging der Wirthin nach und sprach ein paar Worte mit ihr, indem er auf Juli deutete. „Was?“ rief sie, plötzlich umgewandelt, stürzte in die Stube zurück und riß der nichts ahnenden Juli die Kinder von der Seite. „Du bist die Tochter von dem Bergwirth, der so viel Unglück über uns gebracht hat … von dem Mörder, dem Zuchthäusler? Und Du unterstehst Dich und willst Dich bei mir einschleichen in’s Haus und zu meinen Kindern …“

„Aber Ihr habt mich ja selbst …“ stammelte Juli, betroffen von dem neuen Unheil, das über sie hereinbrach.

„Weil ich Dich nit gekannt hab’, Du scheinheilige Heuchlerin!“ schrie das wüthende Weib. „Hätt’ ich gewußt, wer Du bist, ich hätt’ Dir die Thür vor der Nasen zugeschlagen … Nichts da, eine solche Person wäre just die Rechte, daß man ihr Kinder anvertrauen könnte … wer weiß, was sie ihnen anthät; der Apfel fallt nit weit vom Stamm!“

Juli begannen die Sinne sich zu verwirren; war sie es denn wirklich, der man so begegnen durfte? Sie, die mit Wissen noch kein Kind beleidigt; die, wenn sie konnte, den Wurm oder Käfer aus dem Wege trug, ihn nicht zu zertreten! Ihr ganzes Wesen bäumte sich auf vor innerer Entrüstung, und die Reinheit ihres Bewußtseins funkelte aus ihrem Auge; es war wirklich etwas von dem Sinne des Vaters in ihr, der trotzige Grimm des Wurmes, der sich unter dem Eisengriffe der Jägerfaust windet und ohnmächtig in den gepanzerten Handschuh beißt. „Frau,“ rief sie mit so drohender Geberde, daß die Erschrockene davor ein paar Schritte zurückprallte, „ich rath’ es Euch – redet nicht so mit mir … thut es nicht um Eurer Kinder willen, damit nicht an ihnen gestraft wird, was Ihr Euch an mir versündigt! Ich habe mich nicht in’s Haus geschlichen – ich wollte nur ein Nachtlager haben wie ein anderer Gast – Ihr selbst habt mich aufgenommen auf den Schein hin und schimpft und schmäht mich jetzt wieder auf den Schein … Und wenn Ihr mich mit aufgehobenen Händen bitten wolltet und wolltet mich in Gold fassen, ich – die Zuchthäuslerin, wie Ihr mich genannt habt, bliebe nicht bei Euch – eh’ will ich unter der nächsten Staude am Weg übernachten, als bei Euch! …“

Sie war aufgesprungen und rannte durch das offene Hausthor hinaus in die Nacht und den strömenden Regen – die Wirthin sah ihr verblüfft nach, die Energie des Mädchens hatte sie ein wenig verschüchtert; der Mann, der den Angeber gemacht, leerte seinen Krug und stand auf. „Ich will auch noch weiter um ein Haus,“ sagte er, „in dem da thät’ mir doch kein Tropfen mehr schmecken … Nehmt mir’s nicht übel, Mohrenwirthin, ich hab’ Euch gesagt, wer das Mädel ist, weil ich gedacht hab’, es wird Euch doch merkwürdig sein – aber wenn ich gewußt hätt’, daß Ihr einen solchen Lärm aufschlagt, hätt’ ich auch was Gescheiteres zu thun gewußt …“

Er ging, die Wirthin aber schob die verdutzten Kinder nebenan in die Küche. „Versteht sich,“ murrte sie vor sich hin, „der hat gut reden – seine Kinder sind es nicht … wer weiß, was das desperate Leut’ ihnen angethan hätt’, den armen Hascherln.“ …

Juli war indessen ziellos fortgelaufen, sie fühlte den Regen nicht und nicht den Sturm, der ihn peitschte und warf – erst außerhalb des Ortes unter dem Vorsprung einer kleinen Capelle hielt sie an, strich sich das triefende Haar aus der Stirn und fragte sich fröstelnd wohin. Sie wollte in dem Vorcapellchen niederducken, aber es ging nicht an, der Wind strich durch die Pfeiler und das Geländer, als wolle er versuchen, ob es denn nicht möglich sei, die Widerstrebenden zu beugen, wie die Häupter der Buchen und die Ahornkronen, die sich sausend vor ihm neigten. Sie entsann sich manches Bekannten und Befreundeten aus den guten Tagen, aber sie war so entmuthigt durch die Aufnahme, die ihr bis jetzt geworden, daß sie es nicht wagen wollte, zum dritten Male an eine fremde Thür zu pochen. Wenn nur die Nacht vorüber war, dann wollte sie sich auf die Eisenbahn setzen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 447. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_447.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)