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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Die Thurmschwalbe.
Von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)

„Sind Sie wirklich so zorniger Natur, Herr Graf?“ fragte die junge Dame mit leiser, beinahe erschrocken lautender Stimme, ihrem Vater einen bedeutungsvollen Blick zuwerfend.

„Zornig? Nun, ich will nicht Nein sagen. Es giebt Dinge, die unser Blut in Wallung bringen, und es wäre schlimm, wenn das nicht wäre – tadelhaft wird es nur, wenn die Dinge, die diesen Einfluß auf uns üben, zu geringfügiger Natur sind. Ob das bei mir vorkommt? Vielleicht – und doch könnte Mancher bei mir auch das gerade Gegentheil finden.“

„Also statt des heißen Bluts Sanftmuth und Geduld? – ich zweifle doch daran,“ sagte lächelnd Melusine.

„Und doch könnte es der Fall sein,“ antwortete Graf Ulrich. „Im einzelnen Menschen stecken sehr viele Eigenschaften; nur hat er sie nicht gegen Alle. Dem Einen geben wir uns so, dem Andern so. Es kommt eben darauf an, wie er selbst auf uns wirkt.“

„Muß ein fester kernhafter Charakter nicht gegen Alle gleich sein?“ versetzte Melusine.

„O nein … gegen den Einen sind wir offen, gegen den Andern verschlossen. Gegen den Lustigmacher sind wir ernst und gegen den Grillenfänger laut und lustig; gegen den Weltmenschen Philosophen und gegen den Frömmler frivol. Ist das nicht eine natürliche Folge des Oppositionsgeistes in jedem Menschen?“

„Weshalb nehmen Sie an, daß ein solcher Oppositionsgeist in jedem Menschen stecke?“ fragte die junge Dame.

„Ich meine eben, er steckt in jedem starken, lebhafte Eindrücke empfangenden Menschen.“

„Diese Oppositionslust, dieser Widerspruchsdrang,“ fuhr Melusine fort, „hat doch das sehr Ueble, daß er uns am Ende zum Chamäleon macht, welches die Farben wechselt, je nachdem Blau oder Grün oder Gelb oder was sonst auf dasselbe wirkt. Man soll nicht stets den Mantel nach dem Winde hängen, ebenso wenig aber auch stets wider den Wind – es giebt just dieselbe Unstätigkeit. Weshalb sich immer in Widerstreit zu Anderen setzen? Alle Menschen haben gute Gründe, daß sie just so sind, wie sie sind. Man muß das Verständniß dafür suchen, statt ihnen zu widersprechen. Dies letztere ist viel leichter als jenes.“

„Sie halten mir da eine völlige Strafpredigt, mein Fräulein,“ sagte Graf Ulrich lachend. „Sie machen mich zu einem Chamäleon, zu einem Manne, der den Mantel wider den Wind hängt, zu einem oberflächlichen Menschen, der …“

„O bitte,“ fiel sie ein, „Sie sind furchtbar rasch in Ihren Schlüssen, Herr Graf – es liegt mir durchaus fern …“

„Wie erschrocken Sie aussehen – bah, was läge daran? Glauben Sie, ich wäre so verwundbar? Wahrhaftig, es sind mir von schönen Lippen schon ganz andere Predigten gehalten, und wenn die Ihrige viel milder lautet, so ist sie darum nicht fruchtloser. Ich will mir’s gesagt sein lassen, und Sie sollen nicht finden, daß ich ein Chamäleon bin – im Gegentheil viel zu sehr, vielleicht immer derselbe in dem Verlangen …“

Graf Ulrich, der diese Worte rasch ausgestoßen hatte, hielt plötzlich inne. „Ja so,“ sagte er. „Ich vergesse ganz, daß ich nicht die Zeit haben werde, Ihnen zu zeigen, daß Sie mir Unrecht thun, und daß ich sehr, sehr fest, beharrlich, wechsellos sein kann. Sie wollen so bald schon Ihre Reise fortsetzen und mich hier in der Einsamkeit zurücklassen … aber Herr Vicomte, so trinken Sie doch – es ist zwar nicht Ihr heimathliches Getränk, was mein Tafeldecker Ihnen vorgesetzt hat, aber ein alter feuriger Rheinwein – ich habe ihn in den Kellern des Schlosses vorgefunden als ein Fideicommißstück wie die ganze Herrschaft – zwei Stückfaß, die seit mehr als hundert Jahren, stets sorglich neu aufgefüllt, zum Familienschatz gehören!“

Der Vicomte trank, lobte das feurige dunkelgelbe Rebenblut und sagte dann: „Da Du arbeiten willst, meine Tochter, wird Dir unser gütiger Wirth gewiß die Erlaubniß geben, aufzustehen.“

„Sie haben zu befehlen,“ sagte der Graf Ulrich sich gegen die Dame verbeugend und hob die Tafel auf. „Gegen die Arbeit aber protestire ich,“ fuhr er dann fort, „ich sende zum Dorf, um einen Abschreiber suchen zu lassen.“

„Gesetzt, Sie fänden ihn, Herr Graf,“ warf Melusine sehr bestimmt ein, „so möchte er schwerlich so bald darüber instruirt werden können, was er eigentlich abschreiben soll, worauf es bei diesen Auszügen aus den Stammbäumen für uns ankommt – es wird doch besser sein, ich mache die Arbeit selbst.“

„Und werden Sie so genau wissen, worauf es dabei ankommt?“ fragte Graf Ulrich fast spöttisch.

„O, meine Tochter versteht das!“ fiel der Vicomte ein. „Sie ist sehr unterrichtet, namentlich was die Geschichte betrifft, und hat mir den Beistand eines gelehrten Amanuensis geleistet bei einer Arbeit, welche ich über die Geschichte der großen Häuser Frankreichs, die schon vor dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts als Inhaber großer Lehen und Herren von Lehenshöfen vorkommen, begonnen habe – die ich aber dann leider liegen lassen mußte, weil mir das Material zu sehr fehlte.“

„Ah, Sie sind eine Gelehrte!“ rief Graf Ulrich überrascht aus.

„Nichts weniger als das,“ erwiderte leicht erröthend Melusine. „Ich bin nur eine brauchbare, von meinem Vater für seine Absicht dressirte Arbeiterin gewesen.“

„Aber sehr brauchbar!“ bemerkte lächelnd und zärtlich die Hand auf ihre Schulter legend der Vicomte.

„Ich habe eine furchtbar gelehrt aussehende Bibliothek im Schlosse,“ fuhr Graf Ulrich fort; „vielleicht fänden Sie darin eine Menge des Materials, welches Ihnen bis jetzt fehlte. Soll ich sie Ihnen zeigen?“

Der Vicomte verbeugte sich.

Der Graf schritt voran, dem Ausgang des Saales zu, während Melusine zurückbleibend sagte:

„Unterdeß erlauben Sie mir, mir aus den Pergamenten meine Arbeit auszusuchen und sie mit auf mein Zimmer zu nehmen?“

„Ah,“ stieß der Graf fast zornig hervor, „Sie sind außerordentlich eifrig auf Ihre Arbeit – ich wünschte, Sie begleiteten uns; es wird Sie interessiren zu sehen, ob Ihr Herr Vater das Erwartete findet; Sie selbst werden suchen helfen!“

Melusine folgte trotz dieser Einladung nicht.

„Ich möchte so rasch wie möglich …“

„Sie sind nicht höflich mit Ihrem ‚so rasch wie möglich‘,“ unterbrach Graf Ulrich sie in demselben Tone; „weshalb diese Eile, das, was allein Sie in meinem Hause zurückhält, abzumachen? Ich wäre im Stande, Ihnen die Pergamente, deren Sie bedürfen, zu nehmen und Ihnen täglich nur Eines zu geben, damit Sie recht viele Tage …“

Der Vicomte fiel ihm in die Rede, er legte die Hand auf den Arm des Grafen, um ihn wegzuführen, und sagte, wie um seiner Tochter eine Antwort zu ersparen: „Kommen Sie, Herr Graf, Sie wissen, ce que femme veut, Dieu le veut, es hilft nicht, dawider sich auflehnen.“

„Freilich, dann nicht, wenn Sie Ihre Fräulein Tochter nach diesem ein wenig gefährlichen Grundsatze erzogen haben, Herr Vicomte,“ rief Graf Ulrich lachend und wandte sich dann zu gehen.




5.

Melusine blickte ihnen, als die Thür sich hinter ihnen geschlossen, mit leicht gerunzelter Braue nach.

„Wie höflich – und wie impertinent ist dieser Mensch!“ sagte sie bitter vor sich hin; „halb sind wir ihm seine Standesgenossen und Verwandte und halb – arme Teufel, die man behandelt, wie man Lust hat! Oder ist er gegen alle Menschen so?“

Sie ging in das offenstehende Nebenzimmer, suchte hier eine Anzahl der Pergamente aus der Mappe und nahm sie an sich, um damit auf die ihr und dem Vater angewiesenen Zimmer zu gehen.

Graf Ulrich war unterdeß offenbar ein wenig verstimmt über einen Corridor, dann eine Treppe hinauf und endlich oben bis an eine Flügelthür gegangen, die in einen Raum führen mußte, welcher gerade über dem unteren Hauptsaale lag. Wenn man nach rechts den Corridor hinabsah, der auch hier durch das Gebäude lief, so erblickte man im Hintergrunde eine Glaswand, die den Gang hier

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 450. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_450.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)