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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

abschloß und nach der andern Seite hin mit einer weißen Gardine verhängt war; es mußte dahinter die Wohnung der Frau Wehrangel liegen, denn der große Thurm schloß sich dort an das Gebäude.

Graf Ulrich öffnete die Flügelthür und führte den Vicomte, der ihm gefolgt war, in den stattlichen Raum, der nach allen Seiten hin mit einfachen eichenen Bücherrepositorien besetzt war und eine sehr respectable Bibliothek enthielt.

„Ah,“ sagte der Vicomte mit einem leichten Ausrufe der Verwunderung, „das ist ein Bestandtheil der Herrschaft Maurach, der diesem Namen die größte Ehre macht.“

„Wie man’s nimmt,“ versetzte der Graf. „Es beweist freilich, daß es einmal einen wissenschaftlich gebildeten Mann in der Familie gegeben hat, denn sonst würden die Bücher nicht hier sein. Aber die Schande ist nun für die Nachkommen um so größer, wenn sie absolut nichts wissen von Allem dem, was in diesen Büchern steht. Dies Gefühl ist in mir leider noch das vorherrschende, sollte es wenigstens sein. Kommen Sie, sehen wir uns die Titel an, um zu erforschen, an welcher Seite wir dasjenige, was innerhalb des Bereiches Ihrer Studien liegt, finden. Hier haben wir,“ fuhr er, einem der Repositorien nahetretend und die Rückentitel lesend, fort, „die Moralisten des vorigen Jahrhunderts. Da ist Bolingbroke, Shaftesbury, Lord Chesterfield …“

Der Graf sprach die englischen Namen, wie er sie geschrieben fand.

„Sie lesen nicht englisch?“ fragte mit einem kleinen überlegenen Lächeln der Vicomte.

„Ich spreche, oder wie Sie es nennen werden, radebreche französisch. Das ist aber auch Alles, was ich kann. Ich denke: wozu Sprachen lernen? es wird Einem schon schwer genug, in der einen angeborenen das, was man fühlt und denkt, und was Einem durch den Kopf geht, auszudrücken.“

„Es kommt doch weniger darauf an, sich auszudrücken, als darauf, daß man verstehe, was Andere haben ausdrücken wollen. Wir können von den anderen Völkern Vieles lernen, wenn wir gelernt haben, sie zu verstehen.“

„Denken Sie so? Ich nicht. Ich sehe in der Sprache ein Mittel, mich verständlich zu machen. Das ist mir wichtiger, als zu erfahren, was Andere wollen. Es ist ihre Sache, ihre Wünsche zu erreichen, ihre Ueberzeugungen durchzusetzen. Aber hier kommen wir an die Geschichte – an die Geschichte Frankreichs.“

„In der That,“ sagte der Vicomte, sich zu den unten stehenden Folianten und Quartanten niederbeugend, „hier finde ich lauter Werke, welche sich mit der Geschichte Frankreichs beschäftigen – ah … und da ist auch der ‚Père Anselme‘ und hier das unvergleichliche Werk, der Montfaucon, seine ‚Monuments‘, die ich so schwer vermißt habe …“

„Vortrefflich!“ rief der Graf aus; „so verlegen Sie Ihr Arbeitscabinet in diesen Saal und bleiben Sie hier bei mir, bis Sie alle diese Werke ausgeschöpft haben.“

„Und meine Tochter?“ erwiderte lächelnd der Vicomte.

„Ich denke, Ihrer Tochter bedürften Sie als Ihres Gehülfen bei solcher Arbeit …“

Der Vicomte antwortete nicht; er sah noch einige der Rückentitel an, und dann sich erhebend, sagte er: „Sie haben mir eigentlich das Herz schwer gemacht, indem Sie mir alle diese Schätze zeigten, die mir doch verschlossen bleiben müssen.“

„Weil Sie eigensinnig sind …“

„Nichts deshalb,“ fiel der Vicomte ein. „Sie wissen, was mich zwingt, die Heimath aufzusuchen. Ich bin zu arm, um nicht zunächst darauf meine Gedanken richten zu müssen – alle, alle. Ich habe Ihnen ja offen gesagt, wie es um uns steht, Herr Graf. Lassen Sie mich,“ fuhr er erröthend und wie mit einer Anstrengung über sich selbst tief aufathmend fort, „lassen Sie mich in dieser Offenheit noch einen Schritt weiter und bis an’s Ende gehen. Ich bin gekommen in der Hoffnung, von Ihnen die Mittel zu erhalten, deren ich nothwendig bedarf, um meinen Zweck zu erreichen. Es würde, um ohne Umschweife zu reden, ein Vorschuß, ein Darlehen von tausend Thalern sein; davon, daß Sie ihn mir großmüthig gewähren, hängt die Zukunft für uns ab …“

Der Vicomte athmete wieder tief auf und sah mit verwirrten Zügen und scheuen Blicken in das Auge des Grafen.

Es war unverkennbar, wie furchtbar peinlich ihm der Augenblick war, wie sehr sein Stolz, sein Ehrgeiz darunter litt. Er war mitleidswürdig.

Und doch schien er diesen Eindruck nicht auf den Grafen Ulrich zu machen. Dieser sah ihn mit funkelnden Augen an, biß sich eine Weile, worin er nicht antwortete, auf die Lippen und vergrub dabei, wie behaglich, seine beiden Hände in die Taschen seines Jagdrocks.

„Sie fühlen selber,“ fuhr, durch dies Wesen verschüchterter, der Vicomte stotternd fort, „wie schmerzlich diese Lage für mich ist, die mich zwingt, so an Ihre Sympathie zu appelliren. Wäre es nicht der Gedanke, daß Sie selbst ein Interesse haben müßten an dem möglichen Erfolge eines Mannes, der, wenn auch sehr entfernt nur, doch Beziehungen zu Ihrer Familie hat, und etwas von Ihrem Blute in seinen Adern …“

Graf Ulrich machte eine barsch abwehrende Bewegung mit der Hand, während sein Auge mit demselben Ausdrucke auf dem mitleidswürdig aussehenden Vicomte lag. Es war wie der Blick eines Naturforschers auf ein von seinem Instrument zerquältes Insect, das ihn eine neue Entdeckung machen läßt, ein Blick voll Spannung und – Befriedigung!

„Scheint Ihnen die Summe zu groß …“ fuhr der Vicomte leiser fort, und nach seinem Tuche suchend, um sich die Stirn zu trocknen.

„Ah bah, Sie armer Mann!“ rief Graf Ulrich jetzt aus, „wie hart muß Sie das Schicksal geschüttelt haben, daß Sie so erregt sind und so viel Wesens machen um eine solche Lappalie! Sagen Sie mir, hat dies harte Schicksal, die Noth und die Leiden, die Sorge und die Demüthigungen, haben sie Sie stärker, tüchtiger, nobler und besser gemacht, oder ist es umgekehrt? Aber freilich, das ist eine indiscrete Gewissensfrage,“ setzte er auflachend hinzu. „Seien Sie mir nicht böse darum …“

Des Vicomte Züge glätteten sich und mit einem wie freudigen Erröthen sagte er, ohne auf des Grafen Rede einzugehen: „Sie nennen es eine Lappalie?“

„Nun freilich … an und für sich vielleicht nicht, aber jedenfalls im Verhältniß zu der Anstrengung, die es Sie gekostet hat, mich darum zu bitten!“

„Ihre Güte wird also so groß sein, meine Bitte zu erfüllen?“

„Nein – denn leider hängt die Größe meiner Güte von ihrer Macht ab. Ich habe keine tausend Thaler. Sie sind leider nicht in meiner Casse. Ich bin ein armer Teufel, fast wie Sie, Herr Vicomte. Alles, was in meine Rentcasse fließt, ist außer dem unumgänglich nöthigen Bedarf für mich und meinen Haushalt hier an meine Gläubiger gesandt worden. Ich habe eine ganze Schaar solch bellender Hunde, denen ich jetzt das Maul stopfen muß. Denn Sie müsten wissen, daß ich, bis ich hierher kam, ein großer Lump war. Man hat mich deshalb vom Regimente fortgejagt.“

„Ach,“ sagte mit einem sehr tiefen und schmerzlichen Seufzer der Vicomte, „das ist schlimm, sehr schlimm!“

„Nicht so schlimm, wie es aussieht. Ich glaube, mein Rentmeister hat demnächst bedeutende Geldsummen aus den im verflossenen Winter gemachten Holzschlägen einzunehmen. Die Sache ist also einfach: ich gebe dem Rentmeister Befehl, diese Zuflüsse aufzustauen, bis sie auf die Höhe von zweitausend Thalern gewachsen sind. Diesen Zeitpunkt warten Sie hier ab.“

„Ich bat nur um tausend.“

„Die werden nicht reichen – tausend würden weggeworfen sein, während zweitausend Sie eher in den Stand setzen werden, Ihr Recht in Frankreich durchzusetzen und dann mir den Vorschuß zurückzuerstatten. Ich habe Ihnen gesagt, weshalb ich darauf, auf die Rückerstattung, halten muß.“

Der Vicomte sah sehr betroffen aus.

Graf Ulrich lachte.

„Entsetzt Sie der Gedanke so, daß Sie nun einige Tage, vielleicht Wochen lang mein Gast sein müssen?“

„Es ist mir in der That peinigend, Ihre Güte so sehr in Anspruch nehmen zu müssen …“

„Ach,“ sagte Graf Ulrich fast unwillig, „beruhigen Sie sich doch darüber. Sie sehen ja, wie, sehr ich hier allein bin, wie dankbar ich Ihnen und Ihrer Tochter sein muß, wenn Sie mir ein wenig Gesellschaft leisten. Es ist ja ganz klar, daß ich Ihnen damit ein Opfer zumuthe, diese monotone Einsamkeit zu theilen. Doch hoffe ich, daß ich’s darf, ohne mir zu große Gewissensbisse machen zu müssen, da Sie selbst nicht an große gesellige und andere Lebensgenüsse gewöhnt sein können während Ihres Lebens in den letzten Jahren; und so hoffe ich, Sie werden mit Schloß

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