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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Caplan und ich haben oft unsre liebe Last mit dem Bösewicht …“

„Aber der Pfarrer, der uns herbrachte – Sie meinen doch den nicht?“

„Nein, nein, nicht den – das ist ein gar ernster und strenger Herr, der Herr Pfarrer – den Pastor, so nennen wir den hier, den man von seiner Pfarre abgesetzt hat, um hier bei unserm Pfarrer sich zu bessern.“

„Und der junge Caplan und Sie arbeiten zusammen an diesem Besserungswerk?“

Die Thurmschwalbe lachte.

„Nein,“ sagte sie, „wir vertheidigen uns nur zusammen gegen seine Angriffe, seine böse Zunge. Bekehren können wir den doch nicht mehr – selbst der Herr Pfarrer, glaub’ ich, hat’s aufgegeben. Aber ich störe Sie wohl mit meinem Geplauder?“

„Nicht doch, nicht doch! Was könnte mir angenehmer sein, als mir von Ihnen erzählen zu lassen.“

„Sie sich von mir?“ lachte Annette. „Ich, ich habe gar nichts zu erzählen; ich habe nichts erlebt, nichts gesehen, nichts erfahren; Aber Sie, Sie, Fräulein, was müssen Sie Alles schon erlebt und gesehen haben!“

„Manches, mein Kind – erzählt ist’s dennoch rasch. Ich war eben confirmirt, als wir flohen, emigrirten. Wir zogen nach Coblenz – von dort mußten wir weiter in’s Innere Deutschlands fliehen. Seitdem haben wir mehrere Städte bewohnt – haben uns immer weiter gen Norden begeben, nach Hamburg, nach Ploen …“

„Ploen – das habe ich kaum je nennen hören, wie weit muß das sein!“ unterbrach sie Annette.

„Es ist weit im Norden von Deutschland, und im Winter schon sehr rauh und kalt. Der Wind von der Ostsee herüber stürmte oft entsetzlich um unser schwaches, aus Fachwerk gebautes Haus.“

„Und Sie haben wohl viel gelitten da? Man spricht oft davon, wie viel die armen Emigranten auszustehen hatten!“

„Gewiß!“ sagte Melusine ernst, „sehr viel! Es waren ihrer nicht weniger als vierzigtausend, die arm und ohne Hülfsmittel über Deutschland, Holland und die Schweiz zerstreut waren. Eine edle und mit einigen Hülfsquellen versehene Frau unter ihnen hat Vielen beigestanden, sonst wären ihrer noch viel mehr untergegangen.“

„Wer ist die Frau?“

„Die Marquise von Montagu, die Schwägerin Lafayette’s, von dem Sie gehört haben werden.“

„Gewiß,“ nickte die Thurmschwalbe, „er sei ein edler freisinniger Mann, sagt der Caplan.“

„Die Marquise, die auf einem Gute bei Ploen wohnte,“ fuhr Melusine zu erzählen fort, „hatte eine ‚Oeuvre des Emigrés‘ gestiftet; ein edler deutscher Herr, ein Graf Stolberg, der durch ihre Frömmigkeit und ihren christlichen Eifer gerührt ist, hatte sich ihr angeschlossen und sie unterstützt …“

„Stolberg?“ sagte Annette wie nachsinnend, „ich glaube, der Pfarrer erzählte, er sei katholisch geworden, und der Pastor bemerkte dazu, der Herr Jesus sage bei Lucas: ‚wandert nicht von einem Hause in das andre‘.“

„Es scheint in der That ein seltsamer Heiliger, dieser Pastor,“ entgegnete Melusine mit strengem Ausdrucke. „Aber lassen wir ihn – ich wollte Ihnen von den Emigranten erzählen und der rastlosen Thätigkeit der Marquise de Montagu und ihres Hauses, der Noailles, um uns Alle über dem Wasser zu erhalten, bis die Stunde der Befreiung für Viele wenigstens, die nicht auf der fremden Erde untergegangen, schlug – bis man in Frankreich anfing, Einzelne und dann immer Mehrere von der Liste der Emigranten zu streichen oder ihnen wenigstens, wie uns, eine ‚Surveillance‘ zu gewähren, eine Erlaubniß, unter Polizeiaufsicht in Frankreich zu sein.“

„Ach, Sie sollten nicht heimkehren in das böse Land, wo so viel Blut geflossen ist. Wir leben so ruhig hier, Sie sollten bleiben. Vor einigen Jahren war auch hier Krieg. Preußen zogen durch – auf allen Straßen. Und dann kamen sie zurück, aber sie sahen gar nicht mehr gut aus. Und Franzosen kamen auch – ganz andere als die, welche jetzt im Lande sind, viel, viel häßlicher, zerrissener und wilder. Sie stahlen auch, sie stahlen Gänse von den Weiden und nahmen auch Rinder fort. Sie hatten Katzen bei sich, bei einem Trupp einen große Hahn, der vorauf lief. Denken Sie! Er war braun mit einem ganz goldenen Halse. Nein, bleiben Sie hier, die Polizei wird Ihnen ganz gewiß böse Dinge zufügen, wenn Sie in Frankreich zurück sind. Der Graf ist lange nicht so schlimm, wie die Mutter ihn macht; wenn sie mir von ihm redet – obwohl …“

„Obwohl? … plaudern Sie weiter, liebes Kind,“ sagte Melusine aufhorchend.

„Er ist doch schlimm!“ hauchte ihr im Flüsterton Annette über den Tisch zu.

„Nun? Weshalb?“

„Ja, sehen Sie – ich weiß es nicht – aber die Mutter hat es mir erzählt – mir thut er nichts, er kümmert sich nicht einmal um mich – aber die Mutter sagt, er habe schon drei Menschen umgebracht. Aber“ – Annette legte den Finger auf den Mund – „aber es darf es Niemand erfahren!“

Melusine sah sie an mit der Miene der unverhohlensten Ueberraschung – des Erschreckens; dann aber sagte sie achselzuckend:

„Ah bah – das ist thöricht, solche Dinge zu sagen; nein, es ist sündhaft, sie Jemandem nachzusagen, wenn man die Beweise nicht hat. Einen Mörder straft man und läßt ihn nicht auf freien Füßen einhergehen. Es ist nicht möglich, es ist gewiß Verleumdung. Sprechen Sie, wie sollte das wahr sein können?“

Die Thurmschwalbe warf ein wenig schmollend die Lippen auf, wie etwas von Trotz zitterte in ihren sich leicht blähenden feinen Nasenflügeln. Hatte es sie beleidigt, daß die Fremde das, was sie ihr anvertraut, Verleumdung nannte? Oder war es nicht ironisch, sondern aufrichtig gemeint, als sie antwortete:

„Wenn es Verleumdung und sündhaft ist, so etwas zu sagen, so will ich’s lieber zurücknehmen – denn Beweise habe ich freilich nicht, wie sollt’ ich auch, und die Mutter hat sie sicherlich auch nicht in ihrem Eckspind, so sorglich sie auch immer verschließt, was sie da drin hat. Sprechen wir von Anderem. Erzählen Sie mir mehr von sich, von den Emigranten – wenn Sie nun heimkommen, ziehen Sie dann in Ihre alten Häuser und Schlösser wieder ein, und kommen die Leute, die ehemals Ihre Unterthanen waren, und bringen Alles zurück, was sie Ihnen abgenommen haben? Ich hätte gar nicht das Herz hinzugehn und zu sagen: ‚da bin ich wieder und nun langt einmal Alle heraus, was mir früher gehört hat!‘“

„Die Heimgekehrten erhalten zurück, was nicht von der Regierung verkauft und veräußert ist; was veräußert ist, bleibt ihnen entfremdet, falls nicht die Ankäufer so ehrlich sind, es ihnen gegen den Ersatz der geringen Summe, die sie auf den Ankauf gewandt haben, zurückzugeben. Viele treue Seelen haben sie auch nur in der Absicht gekauft, sie den wahren Eigenthümern zurückzuerstatten. Sehr oft haben sich alte anhängliche Diener gefunden, die wenigstens die fahrende Habe, die Meubel und alles Aehnliche im Stillen auf die Seite gebracht haben, um es uns zurückzugeben, und die Briefe der meisten Heimgekehrten, welche wir gelesen haben, zeigen neben der Trauer über das, was sie von ihrer alten Existenz zerstört gefunden, auch die Freude über so viel rührende Züge der Treue …“

„Ach,“ sagte die Thurmschwalbe, „ich würde doch nie in ein so schreckliches Land, wo man so viel geköpft hat, zurückkehren. Mit Menschen umzugehen, die bei solchen Schrecklichkeiten geholfen, mitgewirkt, die selbst wohl Blut an ihren Händen haben, bei Jedem, der Ihnen begegnen wird, fragen zu müssen: ‚bist auch Du Einer von denen, welche mordeten?‘ nein, nein, das wäre ja entsetzlich, ich hielte es da nicht aus.“

„Mein liebes Kind,“ antwortete Melusine mit einem scharfen wie forschenden Blick, „Sie halten es hier sehr gut im Schlosse aus, und sagen mir doch, der Herr dieses Schlosses habe selbst drei Menschen …“

„O, ich will es auch nicht wieder sagen, niemals!“ rief die Thurmschwalbe aus.

„Aendert das die Sache?“

Annette antwortete nicht – sie glaubte wohl, mit der Erwiderung, womit sie weiteren Mittheilungen ausgewichen, genügt zu haben, wenn diese Antwort auch nicht sehr logisch war. Melusine gelang es auch nicht, so sehr sie es wünschte und so oft sie einen Versuch machte, Annette auf dieses Thema zurückzubringen. War das junge Mädchen so einfältig, oder war es so schlau? – Es stand auf, um wieder zu gehen.

„Also heute wollen Sie mir nichts auftragen, keinen Dienst von mir annehmen? Aber gewiß haben Sie morgen etwas gefunden,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 466. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_466.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)