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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Gebiß hauptsächlich zum Fruchtessen benutzen, wir es trotz seiner Brauchbarkeit für andere Kost doch auch nur für Früchte verwenden dürfen? Zwingt uns etwa der sonst so perhorrescirte Ahnenstolz, in rührender Pietät von der Diät unserer Stammväter nicht abzuweichen und ihm zu Liebe vielleicht auch auf Milch und Käse zu verzichten? Uebrigens wird diese ganze Berufung auf die Affendiät dadurch total auf’s Haupt geschlagen, daß es factisch unter den Affen einige Arten giebt, welche auch von animalischer Kost, Insecten, Eiern, selbst kleinen Vögeln leben. Daß wir mit unseren Zähnen die Fleischstückchen, welche wir in unsern Mund einbringen, ohne Mühe für die weitere Verdauung hinreichend verkleinern können, wird, denke ich, Niemand bestreiten. Daß wir aber, ohne das exquisite Fleischfressergebiß des Tigers oder Hundes zu besitzen, doch von der Natur bestimmt sein können, außer Früchten auch noch Fleisch zu essen, wird jedem Unbefangenen klar, welcher bedenkt, daß dieselbe „Mutter Natur“ uns außer den Zähnen auch noch andere Werkzeuge zum Nahrungserwerb gab, unsere vollendeten Greifwerkzeuge, welche im Verein mit den künstlichen Werkzeugen, welche der von den Vegetarianern so hoch respectirte Instinct die rohesten Naturvölker fertigen lehrt, uns alle Dienste der specifischen Eck- und Backenzähne des Fleischfressers ersetzen. Kurz, die Beschaffenheit unserer Zähne liefert ganz entschieden nicht den angeblich schlagenden Beweis, daß wir geborene Vegetarianer sind. Es ist gerade so grundfalsch und einseitig, diesen Schluß aus unserer Gebißeinrichtung zu ziehen, als aus der Gegenwart von Eckzähnen welche den meisten Pflanzenfressern fehlen, zu folgern, daß wir von Natur reine Carnivoren seien.

Nicht besser steht es mit allen übrigen Eigenthümlichkeiten unserer Organisation, insbesondere unseres Verdauungs-Apparates, in denen man ein unverkennbares Vegetarianergepräge hat erblicken wollen. Keine einzige spricht unzweideutig für eine einseitige Bestimmung zu vegetabilischer Kost, ebensowenig wie für eine rein carnivore Bestimmung. Es ist ebenso unstatthaft, dem Menschen die vegetabilische Kost zu verbieten, weil er weder den vierfachen Magen des Wiederkäuers, noch den gewaltigen Blindsack des Nagers hat, als ihm den Fleischgenuß zu wehren, weil er wie Pflanzenfresser einen „zelligen Grimmdarm“ hat. Die Beschaffenheit seiner Verdauungsdrüsen und ihrer Säfte ist ebenso gut mit der einen wie mit der andern Kost in Einklang zu bringen, die Länge seines Darmcanals hält die Mitte zwischen dem sehr kurzen Darm reiner Carnivoren und dem für die langgweiligere Ausnutzung pflanzlicher Theile sehr lang gemachten Darm der Pflanzenfresser. Durch directe Beobachtung ist sicher constatirt, daß das Fleisch in unserer Leibesküche ganz in derselben Weise wie bei einem Carnivoren gelöst und verdaut, und seine Verdauungsproducte in mehr als genügender Menge den Ernährungssäften einverleibt werden, während es für den Menschen noch nicht hat nachgewiesen werden können, daß er einen Hauptbestandtheil der Vegetabilien, die sogenannte Cellulose, welche als starre Hülle das in den Pflanzenzellen aufgespeicherte Nahrungsmaterial einschließt, zu verdauen vermag, wie es für Herbivoren dargethan ist. Wenn man behauptet, die animalische Kost enthalte unverdauliche Bestandtheile, so ist dies richtig, aber erstens ist ihre Menge in Ochsenmaulsalat und Schweinsohren zwar beträchtlich, im eigentlichen Fleisch dagegen sehr gering, und zweitens gilt dasselbe geradeso auch für die meisten vegetabilischen Gerichte, ganz besonders für die an Cellulose reichen. Wenn man sagt, grobe Fleischstücke würden im Magen wenig angegriffen, so gilt dies wiederum in höherem Grade noch von groben, nicht gehörig zerkleinerten Pflanzentheilen. Sie werden es begreiflich finden, wenn ich mich im Interesse der Damen nicht auf weiteres Detail in dieser partie honteuse unserer Lebensprocesse einlasse, so gern ich noch manche scheußliche Anklage, welche die Vegetarianer in unsere Eingeweide schleudern, ihnen zurückgeben möchte. Also vorbei, vorbei!

Blicken wir auf die Thierreihe, so finden wir durchgängig mit der specifischen, einer bestimmten Futtersorte angepaßten körperlichen Organisation eine entsprechende psychische Ausrüstung verbunden, d. h. jene außerordentlich mannigfachen, staunenswerthen Triebe („Instincte“), welche die Thiere lehren, die verschiedensten, zweckmäßigen Handlungen zum Erwerb der ihnen zugewiesenen Nahrung vorzunehmen, den richtigen Gebrauch von den betreffenden leiblichen Apparaten zu machen. So gern wir uns nun zur Wahrung unserer aristokratischen Stellung in Bezug auf den Besitz von Instincten von der Gemeinschaft mit den Thieren emancipiren möchten, so geht es doch nicht, wir können nicht Alles, was wir thun, unter den auf Erfahrung und Wissen begründeten, vom Verstand dictirten Handlungen unterbringen. Ganz besonders geht es nicht in der Sphäre, von der wir hier reden. Wir müssen uns bequemen, auch bei der Nahrungswahl und dem Nahrungserwerb des Menschen das Walten eines Instincts, beim Mangel von etwas Besserem, anzuerkennen. Keiner bedenkt sich, den Instinct als Führer des Neugeborenen an die Mutterbrust zu betrachten, aber ebenso klar ist, daß der Mensch auch seine spätere Speise nicht erst auf dem Wege bewußter experimenteller Forschung sich ausprobirt, sondern zunächst instinctiv gewählt hat. Das erkennt auch der Vegetarier an, aber während wir als Ausdruck in die Augen springender Thatsachen aussprechen, daß der Instinct den Menschen gleichmäßig auf vegetabilische wie auf animalische Kost hinleite, behauptet der Vegetarianer in blinder Naivetät, der wahre unverdorbene Instinct dränge den Menschen nur zu Früchten und Milch (über die unbequeme Concession!), das Fleischessen sei die Folge eines durch falsche Gewohnheiten ausgearteten, durch künstliche Dressur ruinirten Instincts. Wo sind die Beweise? Selbstverständlich werden wir den unverdorbensten Instinct bei den von der Cultur noch nicht beleckten Naturvölkern zu suchen haben. Sind das etwa reine Pflanzenfresser? Mit nichten!

Die Vegetarianer citiren allerdings bis zum Ueberdruß als Mustermenschen die Hindus, welche, in der Nähe der muthmaßlichen Wiege der Menschheit aufgewachsen, bei dem realen Instinct, aber freilich auch sonst in vieler Beziehung stehen geblieben sind. Allein unsere ungeleckten Urväter in der grauen Steinzeit waren Jäger und Fischer, und der reine Instinct kam nicht einmal nachträglich mit der Einführung des Ackerbaues ganz zum Durchbruch. Bei den Kirgisen und Kalmücken zeigen sich noch heute wenig Spuren davon, und bei dem Eskimo müssen wir wohl für alle Zeit den total verkehrten Instinct als unverbesserlichen Erbfehler ansehen.

Die Vegetarianer citiren immer schlechtweg die heiße Zone als die Zone des reinen Instincts; bei Lichte besehen stellt sich aber selbst in den Tropen die Zahl der halben Sünder, welche von gemischter Kost leben, enorm groß heraus. Der Araber und Berber ißt Fleisch, wenn er es haben kann, mit Leidenschaft und in Menge und schneidet es sich unter Umständen sogar portionsweise aus dem lebenden Ochsen heraus. Rohlfs hat uns erzählt, daß die Ureinwohner Bornus nicht nur Milch und Eier, sondern auch Fleisch in großen Quantitäten vertilgen, und ebenso wissen wir, daß die Eingeborenen des tropischen Amerikas die Jagd zum Nahrungserwerb betreiben.

Die Vegetarianer berufen sich auf die alten Griechen und haben zum Heiligen des reinen Instincts, den sie anbeten und ansingen, den weisen Pythagoras erkoren, welcher die blutlose Diät zum Dogma erhob und ihr Heil so glänzend an sich erprobte, daß er erst im fünfundsechszigsten Jahre heirathete und noch sieben Kinder zeugte. Sie vergessen aber, daß weder Instinct noch Wissen die Grundlage der pythagoräischen Lehre war, sondern im Wesentlichen Aberglaube. Aberglaube war ebensowohl das Motiv seines Fleischverbots als des Interdicts, zu welchem auch die Vegetarianer entsetzt die Köpfe schütteln, des Verbots eines der besten nahrhaftesten vegetabilischen Küchenartikel, der Bohnen. Die Bohnen verbot er, weil sie der Gottheit heilig waren, das Fleisch, weil er an Seelenwanderung glaubte und Angst hatte, einmal aus Versehen eine selige Tante zu verspeisen.

Die Vegetarianer berufen sich endlich auf unsere Kinder, welche nach ihrer Angabe nach der Entwöhnung von der Muttermilch zum Fleischgenuß erst gezwungen werden müßten. Das ist nicht wahr, es ist – ich appellire an Ihre eigene Erfahrung – bei gesunden Kindern, sobald ihre Zähne ausgebildet sind, nicht einmal die Regel, eher die Ausnahme von der Regel. Doch genug auch hiervon! Der langen Rede kurzer Sinn ist, daß der Fleischgenuß dieselbe instinctive Begründung hat wie der Brodgenuß.

Ich komme zum gewichtigsten Controverspunkte, der positiven Anklage der Vegetarianer, daß das Fleisch ein schleichendes, aber sicheres Gift sei, direct, insofern es neben wenigen brauchbaren Bestandtheilen überwiegend schädliche enthalte, indireet, insofern es die Zufuhr anderer Leib und Seele verderbender Gifte nach sich ziehe. So furchtbar armirt diese Schanze, so leicht ist auch diese Position bei näherer wissenschaftlicher Betrachtung zu nehmen. Will es doch von vornherein nicht zu Kopf, daß dasselbe Material, welches als ausschließliche Nahrung zahlreichen, uns nicht viel ferner als die Affen stehenden Thierarten nicht nur nichts schadet, sondern alle ihre normalen Bedürfnisse befriedigt, die Quelle ihrer zum Theil

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 471. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_471.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)