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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

schließt Arbeitscontracte ab und sorgt für des Leibes Nahrung und Nothdurft der Mitglieder. Der Artell führt also zu gemeinsamer Arbeit oder auch umgekehrt. Der Trieb, auf solche Art Genossenschaften zu bilden, ist so lebhaft im niedrigen Volke, daß, wo nur immer Arbeiter bei einem Bau, bei Erdarbeiten etc. zusammentreten, sie unter sich einen Artell schließen. Ja selbst wo Diener vornehmer Leute bei einem Ball zusammenkommen, entsteht sofort ein Artell zur gemeinsamen Theilung der Trinkgelder; Einige bleiben abwechselnd zur Bewachung der Sachen zurück, die Anderen wandern sorglos in die Kneipe. Braucht ein Unternehmer Arbeiter, so wendet er sich einfach an einen ihm bekannten Artell-Obmann, mit dem er alsdann über Anzahl der Arbeiter, Lohnhöhe etc. allein verhandelt, ja an den er später auch die Löhne zahlt, ohne mit den übrigen Mitgliedern in dieser Beziehung direct zu thun zu haben.

Daß das Artellwesen so tief mit dem russischen Volksleben verwachsen ist, erklärt sich zum Theil aus der Verfassung der russischen Landgemeinde. In dieser herrscht nämlich noch eine uralte Art Communismus der Ackerländereien, welche alle neun bis zehn Jahre auf’s Neue unter die Gemeindemitglieder vertheilt werden. Die Ländereien gehören nicht dem Einzelnen, sondern der Gemeinde als Eigenthum, der Einzelne hat nur die Nutznießung, aber jeder Einzelne hat auch einen gleichen Anspruch auf ein gleiches Ackerloos. Die Gemeinde steht unter einem selbstgewählten „Haupte“, dem sich die Gemeindemitglieder gern und willig fügen. Der Russe hat außerordentlich große Unterordnungsfähigkeit, und so hat sich die Selbstverwaltung der Gemeinden im ganzen Reiche seit je mit bewundernswerther Leichtigkeit ermöglicht. Jeder Russe ist also unter dem patriarchalischen Regiment eines Hauptes erzogen und groß geworden und trägt den Genossenschaftsgeist eingeimpft mit sich herum. Geht er in die Welt – und der nomadische Wandertrieb steckt zum Leidwesen der Regierung noch tief im ganzen Volke –, so wird ihm sehr bald und ganz von selber das unbehagliche Gefühl des Alleinstehens mehr als dem Wandernden aus irgend einem anderen Volke fühlbar; es fehlt ihm das patriarchalisch-trauliche Leben der Gemeindefamilie, in der er aufgewachsen ist; er trifft Genossen, die dasselbe fühlen; Alle stehen dem Existenz-, dem Erwerbskampfe gleich gegenüber; sie schließen, sobald möglich, eine Tischehe von Ehelosen, eine „bewegliche Gemeinde“ – was auch das Wort „Artell“ besagen will –; sie suchen Arbeit, wählen ein Haupt, wie es im Großen die Heimathsgemeinde hatte, und leben nunmehr schon nicht mehr allein, nicht mehr verlassen und heimathslos. Der Artell ist ihre Gemeinde und Familie geworden! So hat sich dieses primitive Genossenschaftswesen über das ganze Reich gespannt, oder vielleicht richtiger, so besteht es seit unvordenklichen Zeiten. Wohin nur immer ein Russe einzeln wandern mag, er weiß, er ist nirgends ganz isolirt, er sucht und findet rasch einen Artell, eine Brüderschaft, die ihn bereitwillig in ihren Bund aufnimmt.

Man kann eigentlich drei Arten oder Stufen dieser Artells unterscheiden, die einfachen Handarbeiter-Artells für Tisch, Nachtlager und meist auch für gemeinsame Arbeit, sodann die Handwerker-Artells, von denen manche schon an unsere Productivgenossenschaften erinnern, und die etwas höher entwickelten Artells von Comptoirknechten (Markthelfern) und Waaren-Expeditoren in den Hafenstädten. Ueber die beiden letzteren Arten noch einige Worte.

Wie erwähnt, hat Rußland nie Zünfte in unserem Sinne gehabt, es giebt also hier keine „Gesellen“, keine „Lehrlinge“, sondern nur Arbeiter mit verschiedenen Lohnsätzen. Kommt der junge Mann aus einer Bauerngemeinde zur Stadt, so wählt er sich ein Gewerbe und begreift bei der großen Anstelligkeit der Russen für mechanische Fertigkeiten rasch das Nothwendige. Auch hier ist sozusagen für seine Haushaltung schon gesorgt, die Arbeiter haben längst einen Artell, der Neuling tritt ein und ist der äußerlichen Sorgen vorerst überhoben. Derselbe große Genossenschaftstrieb hat aber auch ganze Dörfer für ein bestimmtes Handwerk erobert. Es giebt Dörfer, wo nur Schneider, andere, wo nur Tischler etc. wohnen. Der Artell-Obmann sorgt alsdann für die ganze Oekonomie, nimmt die Bestellungen auf, vertheilt die Arbeiten, besorgt die Ablieferungen, wie ihm die Besorgung der Rohstoffe und anderen Materialien obliegt. So ist es z. B. im Jaroslaw’schen Gouvernement. Die Schneider-Artells wandern gewöhnlich im Winter von Dorf zu Dorf und stecken dann binnen wenig Tagen die ganze Bevölkerung in neue Kaftans und Pelze.

In den größeren Städten Deutschlands macht sich die Polizei schwere Arbeit mit Ordnung des öffentlichen Fuhrwesens; den Droschkenbesitzern erwachsen daraus zahllose Plackereien. In Rußland kümmert sich die Polizei nur im Punkte der Steuerzahlung und öffentlichen Sicherheit um das Droschkenwesen. Im Uebrigen leitet und verwaltet sich dasselbe ganz frei, es sind eben auch hier wieder (gewerbliche) Artells, die Alles von sich selbst aus ordnen, und man kann wohl nirgends schneller fahren, als hier, man wird keine Zeit der Nacht vergeblich nach einem Wagen oder Schlitten suchen. In ganz gleicher Weise organisirt sich das Frachtfuhrwesen. Selbst in den Casernen, ja sogar unter den Sträflingen der Gefängnisse bilden sich Artells, die jederzeit von der Behörde gern gesehen werden, weil sie überall nur Nutzen stiften.

In den Hafenstädten nutzen die Zollämter und die Kaufleute diesen trefflichen Zug des Volkes zur Genossenschaftsbildung für ihre Zwecke aus. Die Zollämter übergeben die Bewachung der Güterböden einfach einem Artell, dessen Casse für weggestohlene Güter haftet, die Kaufleute thun dasselbe mit dem Schiffsbe- und Entladungsgeschäft; auch die meisten Markthelfer sind Artelltschiks, es werden dem Einzelnen unbedenklich große Summen zum Austragen anvertraut, und man hört nie von Unterschlagungen. Der Artell haftet eben, ja er führt sogar eine Art geheimpolizeilicher Aufsicht über seine Mitglieder.

Es wird sich jeder Leser sagen, wie ganz vortreffliche Entwickelungskeime in dieser außerordentlich leichten Genossenschaftsbildung des Volkes, in dieser raschen Unterordnungsfähigkeit für spätere Zeiten der Geschichte der russischen Nation liegen. Noch sind die Artells meist mehr primitiver Natur und nur in Riga habe ich mit ihnen zugleich Unterstützungscassen eingerichtet vorgefunden. Dieser erfreuliche Ansatz zu einer weiteren Entwickelung ist jedoch nicht aus der Initiative der Artells selber entsprungen, sondern dem fürsorgenden Eingreifen humaner Männer aus unserer braven (siebenhundertjährigen) Colonie an der Düna zuzuschreiben.

Man hat den Russen oft alles selbstschöpferische Talent abgesprochen und gemeint, daß sie nur nachzuahmen vermöchten. Es erscheint ein solches Urtheil aber für einen unbefangenen Beobachter dieses sehr gut begabten Volkes als ein durchaus parteiisches und einseitiges. Wird Rußland erst einige Menschenalter im Genuß des jetzt sich rasch ausbreitenden Schulunterrichtes gelebt haben, dann wird sich auch allenthalben und naturgesetzlich das schaffende Element des Volkes zeigen. Dann dürfte auch die Zeit kommen, wo sich aus den Artells, aus dem so merkwürdig starken Genossenschaftsdrange, Großes für die Gesellschaft, die Volkswirthschaft und mittelbar für den Staat zu entwickeln beginnt. –

Die zum Theil etwas verwegen aussehenden Gestalten des „Artells“ auf unserer Illustration sind Handarbeiter aus dem Witepskischen Gouvernement, die ich mit freundlicher Hülfe meines Freundes Frohbeen (den ich hiermit herzlich gegrüßt haben will) zusammentreiben ließ. Die vortrefflich gelungene Photographie, nach welcher der Holzschnitt angefertigt ist, giebt genau Bekleidungsart und Physiognomien wieder, theils stumpfe, theils gutmüthige, theils verschlagene Gesichter, drei der Gesellen in schmutzigem Schafpelz, den der Russe auch im Sommer mit sich zu führen pflegt, vier in rohen Leinwandkitteln, die Füße in sogenannten „Bastelschuhen“, d. h. Schuhen aus Lindenbast geflochten. Das Volk pflegt diese Arbeiter scherzhaft „Isewitsch“, d. i. „Lausekerl“ zu rufen, auf welchen nicht schmeichelhaften Namen sie auch hören. Leider lief, da ihnen Wesen und Zweck des Photographierens natürlich schwer begreiflich zu machen war, die Hälfte der Leute davon, sobald sie des ihnen unverständlichen Glassalons ansichtig wurden. Sie hatten, wie sie sagten, Furcht, was wohl da oben mit ihnen Alles vorgenommen werden möchte. Vielleicht hielten sie das Gestell mit dem optischen Apparat für eine Art Kugelspritze. Die Uebrigen, welche getreu blieben, fesselte das Versprechen auf eine Flasche des vielgeliebten Wodka oder Branntweins! Diesem heißbegehrten Lieblingsgetränk des russischen Volkes danken die Leser und ich schließlich das hübsche Bildchen.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 486. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_486.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)