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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)


sozusagen für dieselbe Rubrik schon jemals einen Beitrag geliefert haben. Es fallen uns beispielsweise bei Assimilation der Eigenschaft „hoch“ hohe Berge, lange Menschen und dgl. ein.

Die Verbindungen, die eine Wahrnehmung bei ihrer geistigen Assimilation auf diese Weise anknüpft, sind aber unendlich zahlreich, denn außer der Eintheilung nach Eigenschaften bilden auch die Gleichzeitigkeit der Wahrnehmung, die gleiche Oertlichkeit und andere tausendfache Beziehungen Banden zwischen den neuen und den schon vorhandenen Vorstellungen. Es sind diese Verbindungen gewissermaßen die Befestigungsmittel, mit denen eine Vorstellung sich in unserem Geiste festklammert, und die eigenthümliche Entstehung der Vorstellungsverbindungen erklärt uns das unserem Denken zu Grunde liegende Gesetz der sogenannten Ideenassociation. Die Fäden, die sich bei dem allmählichen ersten Entstehen der Vorstellungen in unserem Geiste ausspannen und mit einander verknüpften, dienen bei der Wiedergabe der Gedanken als Leitschnur, woran sich dieselben in bestimmter Aufeinanderfolge (nach den Gesetzen der Ideenassociation) aufreihen, und sind ferner gewissermaßen die Zugseile, an denen wir jederzeit das Material zum Fortspinnen unserer Gedanken in reicher Fülle herbeiziehen können. Sie sind endlich auch die Hülfsfäden des Gedächtnisses. Ich erwähnte schon, daß uns beim Anblick eines Gegenstandes ein anderer, der mit ähnlichen Eigenschaften ausgestattet ist oder zu ihm sonst in irgend welchen Beziehungen steht, ohne unser Zuthun einfällt. Darauf beruhen gewisse Kunstgriffe, die wir anwenden, um unser Gedächtniß zu unterstützen und besonders dem Reproductionsvermögen zu Hülfe zu kommen. Wir suchen den uns momentan entfallenen Vorstellungen (meist sind es wohl Namen oder Zahlen, um die es sich handelt) auf irgend einem der genannten Verbindungswege beizukommen, die sich bei der Aufnahme der betreffenden Vorstellung bildeten; wir nehmen bald diesen, bald jenen Faden als Leitungsschnur zu Hülfe. Will ich mich beispielsweise auf den Namen einer Person entsinnen, so suche ich mir zunächst die Verhältnisse zurückzurufen, unter denen ich mit derselben in Beziehung getreten bin; ich suche mir Augenblicke oder Orte zu vergegenwärtigen, wo ich etwa den Namen habe nennen hören oder selbst genannt habe. Wenn alle diese Wege mich nicht zum Ziele führen, so gehe ich endlich der Reihe nach die Buchstaben des Alphabets durch. In der Regel stutze ich bei einem Buchstaben und weiß oft ganz genau, daß mit diesem der Name anfängt, der mir dann auch einfällt oder erst nach noch weiteren Combinationen der Buchstaben wieder zur Erinnerung kommt. Diese bis in’s Allerkleinste gehende Verbindung einer Vorstellung mit solchen kaum zum Bewußtsein kommenden Bruchtheilen einer anderen muß in der That wunderbar erscheinen.

So giebt es aber unzählige Methoden zur Unterstützung des Gedächtnisses in der angegebenen Weise. Man hat dieselben sogar in einem besonderen Kunstzweige unter dem Namen Mnemonik oder Mnemotechnik vereinigt. Der Erfinder oder Begründer dieser Kunst soll der griechische Dichter Simonides sein. Derselbe, so wird berichtet, war einst bei einem reichen Manne zu Gaste geladen. Ueber Tisch wurde er plötzlich von einem Sclaven herausgerufen, weil zwei Freunde ihn zu sprechen wünschten. Kaum war er aus dem Gemach hinausgetreten, als mit lautem Getöse die Decke desselben einstürzte und alle Gäste unter ihren Trümmern begrub. Nachdem man nun den Schutt hinweggeräumt hatte, um die Leichen der Erschlagenen zu bestatten, zeigte es sich, daß dieselben derart zerschmettert und verstümmelt waren, daß selbst die nächsten Angehörigen die Ihrigen nicht mehr herauserkennen konnten. Da soll nun Simonides das Hülfsmittel gefunden haben, dadurch, daß er sich zu erinnern suchte, auf welchem Platze und in welcher Reihenfolge die Gäste bei Tische gesessen, die Namen der Einzelnen der Reihe nach zu bestimmen.

Dieses Beispiel zeigt uns eine Art der Mnemonik, wie sie wohl Jeder von uns, unbewußt, daß er damit in eine „Kunst“ hineinpfusche, schon auf eigene Hand geübt hat. Es handelt sich dabei um das Behalten und Reproduciren einer Reihe von Worten oder Namen, die unter sich absolut in keinen näheren Beziehungen stehen, um eine natürliche Gedankenbrücke zwischen sich zu bilden. Man sucht nun gleich beim Behalten auf verschiedene Weise diese Brücke künstlich zu errichten. Zuweilen hilft man sich dadurch, daß man die Worte (freilich nicht immer ohne Anwendung einiger Gewalt) in Verse bringt und so an dem Faden des Silbenfalles und Reimes dem Gedächtnisse zugänglicher aufreiht. Wer erinnert sich beispielsweise nicht aus seiner Quartanerzeit der herrlichen Verse, wie: Viele Wörter sind aus is masculini generis: Panis, piscis, crinis, finis, ignis, lapis, pulvis, cinis etc – In anderen Fällen sucht man aus den Anfangsbuchstaben der zu merkenden Worte thunlichst ein Wort zu bilden, was manches Mal recht gut gelingt. So kann man zum Beispiel die vier vom Fichtelgebirge entspringenden Flüsse Main, Eger, Naab und Saale nach dem lateinischen Worte Mens recht gut merken, wie sich auch die vier Monate, welche nur dreißig Tage haben (April, Juni, September, November) nach dem aus ihren charakteristischen Anfangsbuchstaben zusammengesetzten Worte Apjunseno dem Gedächtnisse leicht einprägen. Vor Allem aber leistet diese Methode gute Dienste, wo die Zahl der zu merkenden Worte größer ist. Die Namen der neun Musen zum Beispiel kann man, selbst wenn man sie einzeln kennt, nicht leicht der Reihe nach hersagen; man vergißt bald diese, bald jene. Mit Hülfe der aus ihren Anfangsbuchstaben gebildeten lateinischen Worte tum peccet bringt man sie leicht alle zusammen (Terpsichore, Urania, Melpomene, Polyhymnia, Euterpe, Kalliope, Klio, Erato und Thalia). In ganz ähnlicher Weise bildet man kurze Sätze, deren einzelne Worte mit denselben Buchstaben der Reihe nach beginnen wie die zu merkenden. Ich erinnere nur an den bekannten Satz: „In Richter’s Ofen liegen junge Palmen“, der zum Behalten der sechs Sonntage vor Ostern (Invocavit, Reminiscere, Oculi, Lätare, Judica, Palmarum) als willkommenes Hülfsmittel dient.

Eine andere, die sogenannte topographische Methode, haben wir bei dem Beispiel des Simonides schon erwähnt. Ihre Vorzüglichkeit findet außerdem in der Thatsache ihre Bestätigung, daß man Verse und dergleichen, die man zu lernen hat, leichter behält, wenn man sich stets die Stelle vergegenwärtigt, an der sie in dem betreffenden Buche stehen. Die Methode, zwei sinnliche Eindrücke durch Gleichzeitigkeit der Wahrnehmung miteinander zu verknüpfen, findet in wirksamer Weise auch in den Kinderfibeln ihre Anwendung, wo durch Bilder den Worten Nachdruck gegeben wird. Doch ist man gerade bei dieser Methode in Absurditäten und Lächerlichkeiten verfallen. Wenn z. B. in Bruno’s Universalhistorie ein brennendes Herz den Namen des Schriftstellers Livius bedeuten soll, indem das brennende Herz als Symbol der Liebe durch die Aehnlichkeit des letzteren Wortes mit dem Worte Livius dieses dem Gedächtniß nahe legen soll, so sind solche Ausschreitungen natürlich nur geeignet, die ganze Kunst der Mnemonik in Mißcredit zu bringen. Denn schließlich hat man daran, wie man sich eine Sache merken soll, mehr zu behalten, als an der Sache selbst. Und in Hinblick auf solche Extravaganzen erscheint freilich das verwerfende Urtheil Kant’s gerechtfertigt, welches sagt: „Von dieser Art des Memorirens hat man keine glücklichen und guten Regeln gegeben. Das Meiste läuft auf Albernheiten hinaus – und in dem Kopfe eines Wahnsinnigen kann es nicht schlimmer aussehen, als in dem Kopfe eines ingeniös memorirenden.“ – Heinrich Heine hat ebenfalls die Kunst der Mnemonik mit seinem alles zersetzenden Witze bespöttelt, indem er in den „Memoiren des Herrn von Schnabelewopsky“ vom kleinen Simson erzählt: „Er konnte nicht leiden, daß man in seinem Zimmer auch nur das Mindeste verrückte; er wurde sichtbar unruhig, wenn man dort auch nur das Mindeste, sei es auch nur eine Lichtscheere, in die Hand nahm. Alles mußte liegen bleiben, wie es lag. Denn seine Möbel und sonstigen Effecten dienten ihm als Hülfsmittel, nach den Vorschriften der Mnemonik, allerlei historische Data oder psychologische Sätze in seinem Gedächtnisse zu fixiren. Als einst die Hausmagd in seiner Abwesenheit einen alten Kasten aus seinem Zimmer fortgeschafft und seine Hemden und Strümpfe aus der Commode genommen, um sie waschen zu lassen, da war er untröstlich, als er nach Hause kam, und er behauptete, er wisse jetzt gar nichts mehr von der assyrischen Geschichte und alle seine Beweise für die Unsterblichkeit der Seele, die er so mühsam in den verschiedenen Schubladen ganz systematisch geordnet, seien jetzt in die Wäsche gegeben.“

Es kann wohl kaum geleugnet werden, daß gewisse Menschen von Geburt an in Folge besonderer Beanlagung, d. h. angeborener Entwickelung ihres Gehirns, einen höheren Grad geistiger Fähigkeiten besitzen, als andere, so daß sich die Einen durch eine angeborene Schärfe des Verstandes, Andere durch üppige Phantasie, wieder Andere durch angeborene Gedächtnißstärke auszeichnen. Ich möchte jedoch glauben, daß in vielen Fällen die besondere geistige Kraft erst durch specielle Uebung und Ausdauer erworben oder

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 504. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_504.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)