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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

No. 34. 1870.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


An unsere Leser!

Erst in dieser Nummer ist es uns vergönnt, mit directen Mittheilungen unserer Kriegsberichterstatter zu beginnen. Wenn wir nun, trotzdem jede Nummer drei Mal gesetzt wird, mindestens drei Wochen hinter den Tagesblättern und acht Tage hinter allen übrigen Wochenschriften zurückbleiben, so kennen unsere Leser die Ursache dieser Verspätung, wissen aber auch, daß wir bestrebt sein werden, durch gute Auswahl und künstlerische Ausstattung unserer Artikel diesen Uebelstand namentlich dadurch auszugleichen, daß wir auch für die Zeit nach dem Kriege und für die künftige Generation und die Geschichtschreibung nur Wahres und Werthvolles in unserem Blatte niederlegen. Neuigkeiten, wie sie uns durch den Draht längst bekannt sind, werden nach alledem die Leser von der Gartenlaube nicht beanspruchen – wir beginnen mit den Anfängen des Krieges und lassen die Hauptactionen in den Schilderungen unserer Special-Berichterstatter folgen.

Die Redaction.


Die Thurmschwalbe.
Von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


Unter dem Einfluß der Art und Weise, wie Graf Ulrich Maurach die ganze Sache aufnahm, schien der Richter ein wenig irre geworden; er zögerte zu antworten; aber Melusine, die mit einem Gesicht, auf dem sich die heftigste Bewegung spiegelte, ihre Augen auf seine Züge geheftet hatte, fiel ein: „Es spricht Alles, Alles dafür, daß Sie und nur Sie der Mörder sind, Graf Ulrich! Und nicht allein der armen Frau, sondern vielleicht auch der Tochter … wo ist die Tochter der Frau Wehrangel … das Mädchen ist verschwunden – spurlos verschwunden … wo ist sie?“

„Immer besser,“ rief Graf Ulrich aus … „sie ist verschwunden – und also kann Niemand anders als ich sie entführt haben! Oder ebenfalls ermordet!“

„Der Verdacht liegt auf Ihnen, Herr Graf,“ versetzte kalt Melusine.

Graf Ulrich sah auf Melusine mit einem Blicke verzehrender Wuth. Es schien ihn ein furchtbarer Zorn zu erfassen, daß man ihm so ruhig und kalt diese Worte in’s Gesicht zu schleudern wagte. War es vielleicht der Zorn, daß just diese Lippen es waren, die den Verdacht wider ihn aussprachen? Er richtete wenigstens von nun an seine Antworten nur noch an Melusine.

„Und welches sind die Gründe dieses Verdachts, meine gnädige Cousine?“ sagte er mit bleicher, bebender Lippe.

„Wo waren Sie während dieser Nacht?“ entgegnete sie rasch und heftig.

Er fixirte sie einen Augenblick, dann sagte er: „Sie sahen mich selbst eben aus meinem Schlafzimmer treten.“

„Allerdings zu unserer Ueberraschung,“ fiel hier der Richter ein, „denn da Ihr Pferd im Stalle fehlte, mußte angenommen werden, Sie hätten sich nach der That auf demselben geflüchtet. Der Reitknecht sagte zwar aus, Sie hätten sich mit demselben gestern Abend zwischen acht und neun Uhr entfernt, jedoch da der Mord nach allen Inzichten um diese Stunde noch nicht vollzogen sein kann, so erschien es wahrscheinlich, daß Sie den Reitknecht bestochen hatten; diese Aussage zu machen. Sie behaupten jetzt also, die Nacht in Ihrem Schlafzimmer zugebracht zu haben?“

Melusine schien voll Spannung auf seine Antwort an seinen Lippen zu hängen. Aber er antwortete nicht, er schlug nur die Arme über der Brust zusammen und rief herausfordernd: „Ich wünsche die weiteren Gründe des Verdachts zu hören. Ich war also nicht in meinem Schlafzimmer während der Nacht – ist das Alles?“

„Sie waren nicht in Ihrem Schlafzimmer,“ entgegnete der Richter, „nein, denn Ihr Diener Joseph sagt aus, daß er es zwischen zwölf und ein Uhr betreten, und daß er Sie nicht gefunden hat.“

„Und der zweite Grund,“ fiel hier Melusine ein, „ist der, daß Sie der einzige Mensch sind, der ein Interesse bei dem Morde hatte, aus dessen Verhältniß zu der Ermordeten er erklärlich ist.“

„Das ist richtig,“ sagte Graf Ulrich mit höhnischem Tone; „Sie haben darin vollkommen Recht, meine gnädige Cousine. Ich habe am gestrigen Tage; wie Sie wissen; eine Unterredung mit Frau Wehrangel gehabt …“

„Frau Wehrangel hat Ihnen gesagt, daß sie die einzige, rechtmäßige Erbin der Herrschaft Maurach sei,“ fiel Melusine ein.

„Das hat sie mir gesagt,“ versetzte mit demselben Trotz Ulrich und, mit einem Seitenblick sich zu dem Beamten wendend,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 529. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_529.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)