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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

No. 35. 1870.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Die Thurmschwalbe.
Von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)

Der Vicomte war durch diese heftig hervorgesprudelte Rede Melusinens wie vollständig geschlagen. Er hatte nur ein langgedehntes „Ah!“ auszurufen, und mit offenen Lippen, mit gehobenen Händen starrte er sie an. Endlich schöpfte er tief Athem und rief:

„Aber mein Gott, wenn das Alles wahr wäre … wir haben doch das beste Gewissen dem gegenüber; und wenn er in seiner Leidenschaft des Verachtens für gut findet sich gar nicht zu vertheidigen – dann kann es uns ja gleich sein … es ist seine Sache, was er über sich heraufbeschwört!“

„Uns gleich sein?“ fiel Melusine ruhiger und ihre Heftigkeit bemeisternd ein, „uns gleich sein? Nein. Es ist mir in der That nicht gleich – es kann mir nicht gleich sein! Denn unser Gewissen ist nicht ganz so rein, wie Du sagst – unser Auftreten hier muß ihm zweideutig erscheinen, es ist zweideutig … wir haben das selbst ja immer gefühlt, wir litten ja längst unter dem Druck dieses Gefühls und unter der bittern Noth, die uns dazu zwang. Und dann … ich weiß nicht, es mag so weise, so ruhig stolze Menschen geben, die, wenn sie ein gutes Gewissen haben, verachtungsvoll auf die Verachtung hinabschauen und von ihr nicht berührt werden …“

„Spernere sperni!“ sagte der Vicomte, „es ist freilich eine schwere Kunst!“

„Und ich, ich fühle viel zu wenig von dieser stolzen Erhabenheit des Selbstbewußtseins in mir. Ich fühle mich geradezu in Verzweiflung gestürzt bei dem Gedanken, von ihm verachtet zu werden. Es dreht sich mir das Herz in der Brust um in zorniger Empörung über ihn. Er soll, er soll uns nun einmal nicht so zu behandeln wagen, wie er es vom ersten Augenblick an begonnen hat, und wie er jetzt dem Allen die Krone aufsetzt. Er soll es nicht, und er soll sich vertheidigen, er soll sich Mühe geben, und alle seine Kraft anstrengen, uns zu beweisen, daß er schuldlos ist, oder ... oder ich werde wahnsinnig über Alles dieses!“

Sie hatte sich wieder in ihre ganze Heftigkeit hineingeredet, sie stampfte sogar auf den Boden mit ihrem kleinen Fuße, sie war wieder leidenschaftlich, wie ihr Vater sie nie gesehen.

„Beruhige Dich, ich bitte Dich, Kind,“ sagte dieser, sie mit einem eigenthümlichen Ausdruck des Gesichts beobachtend. „Es ist ja möglich, daß Graf Ulrich – vorausgesetzt, er ist wirklich schuldlos – in seinem Stolze nur allen den Menschen gegenüber, die ihn eben umgaben, so trotzig war und sich nicht herablassen wollte, Erklärungen zu geben. Vielleicht schwindet dieser falsche Stolz, sobald man vernünftig zu ihm redet, unter vier Augen zu ihm redet. Ich bin bereit, dies zu thun, wenn Du es wünschest und es zu Deiner Beruhigung dienen kann. Ich habe das Recht dazu, eine solche Unterredung mit ihm zu verlangen. Wir sind, da die Frau Wehrangel todt, ihre Tochter verschwunden ist, ja die eigentlichen Herren hier … der Richter ist unser Patrimonialrichter, denk’ ich – und so …“

Melusine hatte die innere Ueberzeugung, daß ihres Vaters Vermuthung weitab vom Richtigen lag. In ihr war etwas, das ihr nicht den geringsten Zweifel ließ, Ulrich’s Hochmuth gelte nur ihr, sein Betragen wende seine Spitze nur wider sie, sonst wider Niemand. Aber sie verschwieg das, doch erregt rief sie aus:

„Du hast Recht – für’s Erste sind wir die Herren hier, aber nicht Du, laß mich dies Herrenrecht ausüben – ich will mit ihm reden, ohne irgend eines andern Menschen Gegenwart; ich selbst will es, ich will sehen, ob ich ihn bewege, ob ich diesen Uebermuth breche!“

Und damit eilte sie hastig davon, zum Gemache hinaus und in die Zimmer hinüber, wo der Richter jetzt eben beschäftigt war, die Aussagen des Pastor Demeritus, wie er sie sich von ihm wiederholen ließ, seinem Schreiber zu Protokoll zu dictiren. Melusine unterbrach ihn.

„Sie sahen aus den Aussagen des Pastors, daß die Frau Wehrangel die Erbin von Maurach war,“ sagte sie ihm; „sie ist ermordet, und ihre Tochter ist verschwunden. Wer ist jetzt Herr in diesem Hause? Die Herrschaft geht nach der Aufhebung aller Lehn- und Fideicommiß-Verbände auf die nächsten Verwandten des verstorbenen Grafen Walram über. Diese Verwandten sind wir, mein Vater und ich, Herr Richter …“

Der Richter sah sie sehr überrascht an.

„Wenn Sie wünschen, wird mein Vater Ihnen die nöthigen Documente darüber vorlegen und jeden Einwurf, den Sie dawider erheben könnten, beseitigen. Unterdeß, da mein Vater mir dazu mündlich Vollmacht gegeben hat, verlange ich, als die Gerichtsherrin zu Maurach, mit dem Gefangenen allein zu reden – haben Sie einen Grund, sich dem zu widersetzen?“

„Sie gehen rasch zu Werke, Mademoiselle,“ versetzte der Richter, ein wenig aus der Fassung gebracht durch diese plötzliche Eröffnung. „Für’s Erste ist der Herr Graf Ulrich, wenn auch ein Verhaftsbefehl wider ihn erlassen werden muß, doch noch im

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 549. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_549.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)