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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

No. 37. 1870.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Die Thurmschwalbe.
Von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


Ulrich reichte ihr bewegt die Hand. „Ja, ja, Sie haben Recht,“ sagte er. „Und ich, ich bin der Schuldigere. Ich habe nur geerntet, was ich gesäet. Schließen wir ohne Rückhalt Frieden.“

„Ja, Frieden!“ rief sie im bewegtesten Tone aus, indem sie warm seine Hand ergriff. „Zeigen wir uns die Achtung, die wir vor einander hegen, mit offener Herzlichkeit!“

Er küßte sanft ihre Hand, während sie fortfuhr: „Und nun bieten wir Alles auf, um den wahren Schuldigen zu entdecken; es ist nicht genug, daß man sagt, Sie seien es nicht; man muß auch sagen können, wer es sei!“

„Ich denke,“ fiel Graf Ulrich ein, „wer es ist, kann uns nicht dunkel sein, und der, welcher es dem Richter am besten sagen könnte, ist nicht weit. Sie haben gehört, wie der Pastor sich den Bruder des Mannes der Wehrangel nannte, und da er mir gestern Morgen anbot, seines Bruders Geheimniß – denn was konnte er anders meinen? – zu verkaufen …“

Graf Ulrich wurde hier unterbrochen. Der Richter trat heran, ihm folgte der französische Officier. Dieser hatte aus dem ziemlich mangelhaften und schwerfälligen Französischsprechen des Beamten verstanden, daß Graf Ulrich eines Verbrechens beschuldigt sei, daß das Schloß Maurach der Schauplatz einer Mordthat geworden; der Gedanke, daß er ein Geschenk seines Souveräns an einen Mann, auf dem ein solcher Verdacht gelastet oder noch laste, übergeben – er wälschte einige Worte hervor, die Graf Ulrich nicht verstand, und dabei bemächtigte er sich der Waffe wieder, die Melusine auf den Tisch geworfen, während er fortfuhr, von dem andern Säbel, dem glorreichen Säbel der Pyramiden und des Sieges von Ramanieh, zu sprechen.

Graf Ulrich wandte sich, sobald er ihn begriffen, zu seinem Schlafzimmer zurück, um dies berühmte Waffenstück herbeizuholen und dem Adjutanten zu übergeben.

„Nehmen Sie beide Waffen zurück,“ sagte er stolz, „ich bedarf ihrer nicht mehr; und Sie,“ wandte er sich gleich darauf ernst lächelnd an Melusine, „auch Sie werden kein Verlangen mehr nach dem Säbel Murat’s haben!“

„Nein,“ fiel Melusine ein, „obwohl es die beste Waffe ist, die ich sah, denn sie hat statt zum Kampf zu dienen, uns Frieden gebracht.“

„Und mich,“ fuhr Graf Ulrich fort; „mich hat sie – doch nein, nicht sie, sondern nur Ihr Verlangen nach ihr, Melusine, hat mich vom schrecklichsten Verdacht gerettet – wie soll ich Ihnen das danken?“

Sie blickte ihm bewegt in’s Auge. „Noch Dank,“ sagte sie, „Dank für eine übermüthige Laune, deren Folge war, daß ich jetzt so tief in Ihr Herz blicke?“

Der Officier hatte sich unterdeß schon mit seinen beiden Beutestücken auf- und davongemacht.




19.

Es war ein eigenthümliches und bedeutungsvolles Schweigen, in welchem nach ihren letzten Reden Ulrich und Melusine einander gegenüberstanden. Wie nach einem Sturm, wenn er dahingerauscht und vorüber ist, das Meer noch lange in hohen Wogen rollt, wogte es in Beiden fort, und Keiner fand das Wort oder suchte es nur, um dieser Bewegung einen Ausdruck zu geben. Sie hatten Frieden geschlossen. Aber es war, als ob das Gefühl der tiefen Wunden, die sie sich in dem Kampfe geschlagen, sie nicht denken lassen könne, daß es für sie noch ein anderes Schicksal geben könne jenseits des friedlichen Auseinandergehens und Scheidens, das ihnen jetzt nur noch übrig bliebe.

Eine gleichsam erlösende Wendung für Beide brachte in diesem Augenblick der freudige Tumult, der plötzlich in das Schloß hereinbrach; die Ausrufe des Staunens und des Jubels, die draußen laut wurden; der Lärm vieler Menschen, die sich die Treppe herauf und durch den Mittelsaal näherten – bis Ulrich, rasch über die Schwelle dieses Saales tretend, zu Melusine sich zurückwendend, ausrief: „Die Thurmschwalbe – Annette – dem Himmel sei Dank, da ist sie – unverletzt und heil!“

Er eilte erschüttert auf das junge Mädchen zu. Melusine flog ihr entgegen, um sie mit strömenden Thränen der Freude zu umarmen.

Annette hatte sich in ihrer energischen Erregung vor Kurzem noch so entschlossen und stark gefühlt – jetzt, da sie das Haus, wo ihre todte Mutter lag, wieder betreten, jetzt, da Alles, was sie stürmisch umdrängte, ihr den furchtbaren Eindruck des erlebten Entsetzlichen so heftig wach rief, fühlte sie ihre Kraft wieder schwinden – sie hing wie geknickt am Arme des jungen Geistlichen, den sie krampfhaft preßte, der sich, als sie unter Menschen gekommen, ihr wieder entziehen wollte und den sie festgehalten, als wolle sie ihn für ewig umklammern.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 589. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_589.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)