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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)


Annetten in ihrem Unglück und Schmerz nicht verlassen; sie selbst litt es nicht, und ich, hätte ich es gekonnt? Mein Pfarrer hat mir darauf hin erklärt, er habe über meinen Fall an unsere gemeinsamen Vorgesetzten berichtet; ich werde in den nächsten Tagen eine Vorladung vor das geistliche Gericht erhalten, und eine schimpfliche Ausstoßung, die mir aber alle Pflichten meines Gebundenseins läßt, wird im gelindesten Falle meine Strafe sein!“

Graf Ulrich wußte nicht, was antworten auf diesen Ausbruch einer Klage, die nur zu begründet schien. Er sann lange fruchtlos, ob es denn gar kein Heil und keinen Ausweg in dieser erschütternden Lage des jungen Mannes gebe, bis seine Aufmerksamkeit durch das Erscheinen Joseph’s abgezogen ward. Joseph kam über die Terrasse daher, um ihm ein großes Schreiben mit einem Dienstsiegel darauf zu überbringen.

Graf Ulrich riß es hastig auf; als er es gelesen, flog ein Ausdruck der Befriedigung und Freude über seine Züge. Er stand auf und schüttelte stumm Heinrich die Hand – er war offenbar plötzlich von ganz anderen Gedanken eingenommen, als von der Angelegenheit des armen jungen Mannes. Er ging in’s Schloß und begab sich in die Wohnung Melusinens. Der Vicomte war nicht da; nachdem die ersten Erschütterungen an der Seele des alten Herrn vorübergezogen, hatte sich dieser wieder mit Eifer auf seine Studien in der Bibliothek geworfen, um so emsiger, als die Stunden, worin er diese Schätze ausbeuten konnte, nun für ihn gezählt waren.

Statt des Vicomte aber war Annette bei Melusine.

Ulrich reichte dieser das Schreiben, welches er erhalten hatte.

„Ich komme, Ihnen eine gute Nachricht mitzutheilen,“ sagte er bewegt und Melusine anblickend, als ob er gespannt durchschauen wolle, welcher Art das Gefühl sei, womit das junge Mädchen seine Versicherung, daß er eine gute Nachricht bringe, aufnehme … „ich habe mich,“ fuhr er fort, „an meine Verwandten in Oesterreich gewendet, um mir den Wiedereintritt in’s Heer zu ermöglichen – das ist nicht geglückt; ich muß die Jahre, die ich diente, und meine Rittmeistercharge vergessen, aber es steht mir frei, von Neuem wieder zu beginnen; man sendet mir ein vom Inhaber des Regiments De Lacy-Infanterie ausgestelltes Fahnenjunker-Patent; falls mir das genügt, habe ich nur meinen Namen hineinzuschreiben und meinen eigenen Anstrengungen ist es dann überlassen, recht bald in dem nächsten Kriege, der nicht lange auf sich warten lassen wird, den ja der corsische Brigant schon jetzt droht, das und mehr zu werden, als ich war …“

„Und Sie werden Ihren Namen in dies Papier einzeichnen, Graf Ulrich?“ fragte Melusine tonlos.

„Gewiß werde ich es. Hab’ ich doch nun eine Stellung, wenn auch nur eine sehr bescheidene, wieder – eine Heimath, das Regiment – eine Zukunft, das Schlachtfeld – eine Stelle, wo ich mein Haupt niederlegen kann, das Strohbündel am Beiwachtfeuer – Alles, was ein Soldat bedarf!“

Graf Ulrich rief das aus, ganz in seiner alten übermüthigen Weise, aber durch diesen Uebermuth zitterte etwas im Tone seiner Stimme, das Melusine jetzt heraushörte – hatte es früher, wenn seine übermüthigen Reden sie aufbrachten, nicht darin gelegen, oder hatte sie es nicht herauszuhören verstanden?

„Wenn Sie es so auffassen,“ erwiderte sie zu Boden blickend, „als eine freudige Wendung Ihres Schicksals, dann, dann wünsche ich Ihnen theilnehmend Glück.“

„Sie sagen das, als ob Sie es anders auffaßten,“ entgegnete Ulrich zögernd. „Was könnte ich vom Augenblick Besseres erwarten, welche freudigere Wendung meines Schicksals verlangen? Sagen Sie es mir, Melusine, wenn Sie es wissen. Gäb’ es eine andre Hoffnung für mich, als dies zu erreichen?“

„Sie mögen Recht haben!“ versetzte sie kurz, kalt und fast hart.

„Und so muß ich scheiden,“ fuhr Ulrich nach einer Pause mit verdüsterter Miene fort, „scheiden mit der Sorge um Ihr Loos und um das unserer Freundin Annette. Ich muß Ihnen überlassen, ihr mit treuem Rathe beizustehen, sie abzuhalten von einem sehr, sehr unbesonnenen Anschlag, den ihr eigensinniger kleiner Kopf ausgegrübelt hat, und ...“

„Mein eigensinniger kleiner Kopf!“ fiel hier Annette, die verwundert von dem Einen zum Andern geblickt hatte, ein, „es ist zum Erstaunen, Ihr Beide steht wie die starren Bildsäulen des Eigensinns und des Hochmuths da, und redet von meinem eigensinnigen Kopf! Dankt Gott, daß er da ist mit seinem thörichten Eigensinn, Euch und Eure harten Herzen, die sich nun einmal durchaus nicht überwunden geben wollen, zu bekehren! Wahrhaftig, es ist gut! Was den unbesonnenen Anschlag angeht, den ich mir ausgegrübelt haben soll, Graf Ulrich, so ist es nicht nöthig, daß Sie sich irgend noch eine Sorge darum machen. Ich habe längst einen bessern –“

„Und welchen haben Sie, Annette?“ fragte Graf Ulrich, „und was wollen Sie mit dem Papier da machen?“ setzte er hastig hinzu, den Arm nach dem Patente ausstreckend, als er wahrnahm, daß Annette dieses mit einem raschen Griff vom Tische, wohin er es gelegt, an sich nahm. „Sie werden es nicht etwa zerreißen wollen ...“

„Nein, gewiß nicht!“ sagte sie, breitete es vor sich aus und mit dem linken erhobenen Arme sich wider Ulrich schützend, mit der Rechten eine Feder von Melusinens Schreibgeräth ergreifend, schrieb sie mit fester großer Schrift langsam den Namen Heinrich’s hinein. „So!“ sagte sie dann. „Nun ist Alles gut! Maurach braucht nun kein Spital zu werden. Es wäre schade drum gewesen. Heinrich braucht nur ein rechtschaffener wackerer Soldat zu werden, und das ist gewiß kein Schade. Es ist Alles gut sodann. Niemand wird ihm, wenn er in sein Regiment tritt, ansehen, daß der Rock, den er einige Jahre lang trug, schwarz und überflüssig lang war. Und wenn er heimkehrt mit einer hübschen Narbe über der Stirn, einem hübschen Kreuz auf der Brust, und hübschen Epauletten auf der Schulter, dann wird Niemand was dawider haben, daß ein tapferer Mann ein treues deutsches Mädchen zu dem Bürgermeister führt, damit der ein christlich rechtschaffenes Ehepaar daraus mache. Hab’ ich Recht oder hab’ ich’s nicht? Wozu sollen die Freiheit und das neue Gesetz den Menschen dienen, wenn Niemand den Muth hat, sie zu gebrauchen? Ich sage das neue Gesetz – mir hat es Maurach gegeben, und nun will ich ihm dankbar sein, und ihm Proselyten machen – zuerst Heinrich!“

Melusine hatte ihr mit stummem Staunen zugehört.

„Annette,“ rief sie jetzt aus, „und Sie glauben, zu dem Allen werde Heinrich bereit sein? Thörichtes Kind –“

„Ich bin kein Kind,“ fiel Annette ihr in die Rede, „und die Thorheit ist auf Eurer Seite; ob Heinrich bereit sei, meinen Willen zu thun, macht mir weit weniger Sorge, als Euch zu zwingen, ihn zu thun – und doch werde ich nicht eher Euch Frieden geben!“

„Aber das ist ja entsetzlich ruchlos, verbrecherisch, so etwas auch nur zu denken,“ rief Melusine noch immer im äußersten Erstaunen aus, „das ist ja ebenso unerhört als unmöglich!“

„Weshalb verbrecherisch?“ fiel Graf Ulrich ein, „es läuft nur schnurstracks wider gewisse Vorstellungen an, von denen Sie ausgehen, Melusine; aber es folgt mit logischer Folgerichtigkeit aus den Vorstellungen, welche Fräulein Annette sich macht, und dazu scheint zu gehören, daß ihre und Heinrich’s Liebe etwas Höheres und Heiligeres sind, als alte verrottete Gesetze, die eine Theologie geschrieben hat, welche für die Menschen von heute nicht mehr paßt. Ich bewundere diese muthige Thurmschwalbe mit ihrem frischen Muthe. Millionen Menschen denken wie sie. Von allen Dächern hört man seit einem halben Jahrhundert dieselbe Theorie predigen; die Revolution hat sie über die Welt verbreitet, die große Lehre der Befreiung für den Einzelnen, daß das rein menschliche Gefühl starker und wahrhafter Naturen höher gelte, als das inhumane Gesetz einer veralteten Weltordnung. Und doch, wie Wenige wagen es, diesem Gesetz zu trotzen! Wie Wenige wagen, ihr inneres Recht wider das äußere geltend zu machen! Es ist unerhört, sagen Sie. Freilich – leider! Und darum bewundere ich unserer Freundin frischen Muth – sie hat nicht darüber nachgegrübelt, sie hat sich um die Theorie der Sache gewiß sehr wenig gekümmert, sie hat nur die beneidenswerthe gedankenlose Entschlossenheit, einem starken Gefühl sofort auch die starke That folgen zu lassen!“

„Aber,“ rief Melusine aus, „wenn auch Alles richtig wäre, was Sie sagen, und was ich weit entfernt bin, Ihnen einzuräumen – denken Sie an die Folgen eines solche Schrittes! Die Welt wird …“

„Die Welt wird weder Heinrich noch Annetten etwas anhaben können,“ unterbrach sie Graf Ulrich. „Die Besitzerin von Maurach, wenn sie einen tapfern Officier, der aus dem Felde heimkehrt, heirathet, wird just so viele Gesichter, die ihr unterwürfig lächeln, so viele Rücken, die sich vor ihr bücken, finden, als wenn sie einen beliebigen benachbarten Junker heirathete. Die Welt! Sie muß

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