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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

freilich lästern, wie sie essen und trinken muß; wenn sie aber alle die, welche sie verlästert, meiden wollte, müßte sich Jeder wie ein Einsiedler in eine Zelle sperren. So wird man auch unsere Thurmschwalbe und Heinrich lästern; sie hat, um darüber sich hinwegzusetzen, ihre Flügel, und Heinrich das Bewußtsein, daß größere Männer als er, von den Reformatoren, von Luther, Calvin und Zwingli bis auf Schneider, Feßler, Chabot und wie sie alle heißen, diese Hunderte freier Denker, Gelübde brachen, die sie in Unfreiheit und Ignoranz geleistet hatten!“

Annette hatte ihm sehr aufmerksam zugehört.

„Das ist eine sehr schöne Schutzrede, die Sie da für mich halten,“ sagte sie jetzt leise und still die Hände faltend. „Aber seltsam, nun ich sie angehört, bin ich plötzlich ängstlich geworden, und mir ist, als müßt’ ich’s erst zehn Mal überlegen und erwägen … ach, ich bin gar nicht so muthig, wie Sie glauben – Muth war’s nicht, nein, nein, vielmehr Angst und Noth, was mich so blind treibt, nun, da ich alles Andere in der Welt verloren, Heinrich festzuhalten, damit ich nicht, wenn auch er von mir gerissen würde, sterben müßte!“

In den Augen der Thurmschwalbe lag, während sie diese letzten Worte aussprach, eine volle Bestätigung der Angst und Noth – sie blickten ihr, wie plötzlich wieder erwacht, unverkennbar aus allen Zügen.

„Seien Sie nicht thöricht, Annette,“ rief Graf Ulrich aus, „und weichen Sie nicht zurück vor dem, was Sie gethan. Ich fühle, daß es das Beste ist, das einzig Mögliche, wie Ihnen und Heinrich zu helfen, und deshalb gebe ich Ihnen ja mit Freuden auch mein Eigenthum hin …“

„Zurückweichen?!“ sagte Annette. „Nein, nein, nein, ich will, ich kann es nicht,“ fügte sie tief aufathmend hinzu, „auch wenn ich wüßte, daß wir untergehen würden dadurch für immer – ich könnte es nicht!“

„Rufen wir Heinrich herbei,“ sagte Graf Ulrich sich erhebend.

„Ja, holen Sie ihn,“ fiel Annette ein, und dann ihre ganze Sicherheit wiedergewinnend, rief sie aus: „Aber vorher will ich noch einmal Ihr Lob gewinnen, daß ich ein starkes Gefühl und eine starke That zusammenzubringen weiß. Geben Sie mir Ihre Hand, Graf Ulrich – Sie sind die starke That, und kämen ohne mich doch nicht zum Handeln; und Sie, Melusine, auch Ihre Hand will ich – Sie sind das starke Gefühl, und ohne mich käm’ es doch nie über Ihre Lippen, Ihr Gefühl; ich seh’ es ja! Also muß ich schon für Sie handeln, Graf Ulrich, und für Sie reden, Melusine!“ Sie hatte dabei Beider Hände in einander gelegt, und heiter, fast schelmisch lächelnd wieder zu ihnen aufschauend, sagte sie plötzlich rasch: „Doch nein, zu reden brauch’ ich nicht; ich seh’, daß Eure Blicke das übernommen haben, und was sie sagen, bedarf keines Dolmetsch! Ihr bleibt bei mir, nicht wahr?“

„Wir bleiben, kleine herrische Gräfin von Maurach,“ antwortete Graf Ulrich, „Melusine ist nicht weniger gehorsam als ich – sagen Sie ein Wort, Melusine, daß Sie ’s sind! O, sagen Sie es!“

„Ist es nicht zu thöricht,“ versetzte Melusine tief erröthend, „bei Leuten die – Gelübde so leicht nehmen?“

„Und könnten Sie mich zwingen wollen, unserer Freundin ganzen Plan, ihr einziges Heilmittel zu nichte zu machen, indem ich das Papier dort wieder an mich nehme und selbst als Soldat in die Welt ziehe, ein enterbter, verzweiflungsvoller Mensch?“

„Nein, nein,“ sagte Melusine rasch, „wie dürft’ ich das! Es wäre ja auch eine Gewissenssache – Sie haben als Soldat in der Welt schon Unheil genug angerichtet, Sie sollen von nun an Niemand mehr tödten, als höchstens eine arme Frau, wenn sie sähe, daß Sie sie nicht mehr liebten!“

Annette sah, froh und triumphirend, daß sie durchgesetzt hatte, was ihr „eigensinniger kleiner Kopf“ gewollt, und sie war im nächsten Augenblick verschwunden, um Heinrich aufzusuchen. Daß sie mit ihrem Willen auch bei ihm durchgedrungen, bewies am besten, daß einige Tage nachher die Einwohner des Dorfes von einem abermaligen Verschwinden des jungen Geistlichen zu erzählen hatten, bis diese merkwürdige Thatsache, welche nie eine genügende Aufklärung für sie erhielt, nach Jahren in ihrem Gedächtnisse aufgefrischt wurde – als sich in Folge von Reden des Pastor Lohoff ein Gerücht verbreitete, ein im Schlosse Maurach aufgetauchter österreichischer Hauptmann, der bei Hohenlinden verwundet worden und der einen Arm in einer schwarzen Binde trug, sei Niemand anders als der Verschwundene. Dies Gerücht gewann, obwohl die Dienerschaft von Haus Maurach es leugnete und der Hauptmann einen andern Namen trug, doch täglich an Stärke, bis eines Tages der Name des Hauptmanns und der Annettens an dem schwarzen Brett vor der Mairie, an welches die Heirathsankündigungen angeschlagen wurden, zu lesen stand, worauf es, statt frisch aufzuleben, in bewunderungswürdiger Schnelligkeit gänzlich erstarb. Es war eben Niemand in der Gemeinde, der der von Allen geliebten, gegen Alle freundlichen und immer hülfbereiten „Gräfin Thurmschwalbe“ hätte etwas Uebles nachsagen mögen, wenn dafür kein besserer Gewährsmann da war, als der Pastor Demeritus Lohoff.




Blätter und Blüthen.

Brief eines preußischen Hauptmanns. Wir erhalten von befreundeter Hand den nachfolgenden, aus Gunstett bei Wörth vom 10. August datirten Brief eines preußischen Hauptmanns mitgetheilt, welcher der Schlacht bei Wörth beigewohnt hatte und in dieser verwundet worden ist. Derselbe, an den Vater des Briefschreibers gerichtet, erzählt, mit Hinweglassung der einleitenden Worte, Folgendes:

Unsere Division ging circa um ein Uhr zum Angriff vor. Unter dem Schutze von circa sechszig unserer Geschütze stiegen wir, von französischen Granaten empfangen, in das Sauerthal hinab. Meine Compagnie gerieth unglücklicherweise an den von Regengüssen stark angeschwollenen Sauerbach, welcher hier über vier Fuß tief war und sehr steile Uferwände hatte. Mir ging das Wasser bis zur halben Brust. Im heftigsten Gewehrfeuer passirte ich das Hinderniß. Meine Compagnie kam dabei natürlich ziemlich durch- und auseinander. Am jenseitigen Ufer kamen mir viele Tirailleurs entgegengestürzt, welche von den Franzosen geworfen waren. Um das kolossale Schnellfeuer der Chassepots zu erwidern, ließ ich alle Leute, welche den Bach passirt hatten, ausschwärmen und feuern. Meine ganze Compagnie wurde derart bis auf einen halben Zug absorbirt. Wir avancirten unter starken Verlusten und erreichten gleichzeitig mit allen anderen Truppen den Fuß der jenseitigen Höhen. Die Franzosen wichen nur Schritt für Schritt. Ich kann keinen Versuch machen, um Dir eine Vorstellung von dem wüsten Lärm, dem Knattern von mehr als hunderttausend schnellfeuernden Gewehren, mehreren Hundert Geschützen und den famosen Kugelspritzen zu machen. Letztere haben für die Schlachtmusik eine ganz neue Instrumentirung geschaffen. Denke Dir eine gewaltige Knarre, bei welcher die einzelnen Töne aus etwas heftigeren Detonationen als Gewehrschüsse bestehen. Dazu das Pfeifen der Kugeln! Man glaubte verrückt zu sein; 1866 war nichts dagegen. Wunderbarer Weise war ich bis jetzt verschont geblieben. Kaum hatte ich aber den Fuß der jenseitigen Höhen erreicht, als ein Granatstück mir die Schuppenkette vom Helm riß und das Ohr wund ritzte. Auf der halben Höhe, die Schritt für Schritt erkämpft wurde, bekam ich den zweiten Streifschuß am Gesäß, der mich zwei Tage lang beim Liegen auf dem Rücken sehr incommodirte. Nicht lange darauf wurde mir meine Kartentasche, welche ich unter dem Rock am Säbelkoppel trug, durchschossen und das Beinkleid zerrissen.

Nun wurde mir die Sache etwas toll. Ich tiraillirte mit den Leuten so geschickt, als es ging, die Deckungen waren aber zu unbedeutend und der Kugeln zu viele. Zum Glück schossen wir jetzt die Franzosen barbarisch zusammen. Die Abhänge sahen rot aus von den Leichen und Verwundeten. Glücklich waren wir oben auf der Höhe angekommen. Ich war in der ersten Linie bei den Tirailleuren, als jene berühmte Kürassier-Attaque losging. Um sie besser zu sehen, richtete ich mich aus der Deckung in die Höhe und erhielt die vierte Kugel durch den Schenkel. Ich duckte mich wieder nieder; die Schützen kriechen vor; mein Schenkel schwillt, ich kann nicht folgen und lasse mich zurückführen. Hierbei erhielt ich die fünfte Kugel, zwei Zoll unter der linken Achselhöhle in die Brust; einen halben Zoll vom Wirbel (d. h. des Rückgrats) ging sie wieder hinaus. Einer meiner Begleiter stürzte zugleich mit mir zusammen. Ich verlor die Besinnung nicht, sondern wälzte mich circa fünfzig Fuß bergab in einen steinernen Hohlweg, um aus dem tollen Gewehrfeuer zu kommen. Mit aller Kraft kämpfte ich eine Ohnmacht nieder. Ein Soldat gab mir Wasser. Meinen letzten Tropfen Wein hatte ich kurz vorher einem sterbenden Hauptmann gegeben. Nach einiger Zeit, während ich mit entsetzlichen Brustbeklemmungen zu kämpfen hatte, schoben mir zwei Soldaten meiner Compagnie ein Gewehr unter das Gesäß und zwei andere eins unter die Kniee. Mit großer Aufopferung wurde ich so (unter gewaltigen Schmerzen natürlich) eine Viertelstunde bergab getragen und im Thale im Chausseegraben niedergelegt. Nach einer halben Stunde verstopfte ein Arzt die Kugellöcher mit Charpie und ging weiter. Der Blutverlust war mittelstark; die Schwäche nahm zu. Der Abend senkte sich bereits herab, eine eisige Kälte verbreitete sich über den Körper, welcher noch in den halbnassen Sachen steckte. Ich glaubte zu sterben und hatte die Qualen satt. Neben mir lagen noch zwei Officiere, bereits sprachlos.

Batterien rasselten vorbei, Ordonnanzen jagten; Niemand half uns. Da kam ein Feldgeistlicher zu mir (Heinrich Köstlin). Ich nannte Deine Adresse und bat zu schreiben. Er ging weiter. Es wurde dämmrig. Da

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 624. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_624.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)