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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

mich hier mit zwei Freunden in einem Zimmer des ersten Stockes des Stationsgebäudes installirt. Einige Bund Stroh und ein alter Schrank bilden das Mobiliar unserer jetzt in den Abendstunden nur höchst kümmerlich beleuchteten Wohnung, um welche wir noch von dem Etappencommandanten, der parterre mit dem ehemaligen Wartesaal vorlieb nehmen mußte, beneidet werden. Eine Uniformsmütze der Chemins de fer de l’Est, ein Damenmuff und eine Crinoline, welche in der dunkeln, vom Kerzenschein nicht mehr erreichten Ecke liegen, erinnern noch lebhaft an die ehemaligen Bewohner, welche der Krieg aus ihrer Häuslichkeit vertrieben. Im Zimmer neben uns ist der Feldtelegraph. Die Beamten haben schnell mit uns Freundschaft geschlossen, da wir noch glückliche Besitzer seltener Delicatessen, wie von Cigarren, einigen Flaschen Rothwein und einigen Eiern sind.

Wir befinden uns mitten im Kriegsleben. Rechts von der Chaussee, welche nach Metz führt, bivouakirt in finsterer Nacht ein Wagenpark von mehreren Hundert Proviantfuhrwerken; auf den Feldern links von der Heerstraße kochen bei lodernden Feuern eben die Truppen ab, Gruppen von gefangenen Franzosen bewegen sich in der Dunkelheit und zwischen den Feuern hin und her. Auf der großen Chaussee kommen unablässig Wagen mit Verwundeten an; gleichzeitig ziehen unablässig schwarze Proviantcolonnen, Artillerie und Cavallerie nach Pont à Mousson vorüber. Ueberall, so weit das Auge reicht, Bivouacfeuer. Um das Stationsgebäude herum liegen unter freiem Himmel Hunderte von Verwundeten auf dürftigem Strohlager gebettet, sehnsüchtig des Augenblickes harrend, wo der Eisenbahnzug sie den deutschen Spitälern zuführen wird. Dazwischen bewegen sich bei flackerndem Fackelscheine Aerzte und Mitglieder der Sanitätscorps, den armen Leidenden, welche nur nothdürftig verbunden sind, die erste Hülfe zu bringen. Es ist ein düsteres Bild, das sich vor unserem Auge entrollt, und doch zugleich erhebend für ein deutsches Herz.

Alles aber ist mir noch wie ein Traum: unser Aufbruch von Mainz, unsere fünfundfünfzigstündige Fahrt nach Saarbrücken, unser Zusammentreffen dort mit den ersten Verwundeten, Preußen und Franzosen, unser erster Besuch eines Schlachtfeldes – es war das von Speicheren. Als wir dasselbe betraten, war man eben damit beschäftigt, die letzten Todten zu bestatten. Zahlreiche mit Laubwerk bedeckte Stellen bezeichneten die Gräber, auf welchen mit Bleistift auf kleinen improvisirten Kreuzen die Namen der Gefallenen verzeichnet waren. Das ganze Feld war, so weit das Auge reichte, mit Waffen und Kleidungsstücken bedeckt. Unter den zahlreichen herumliegenden Briefen fanden wir mancherlei interessante Andenken, so unter Anderm das Bruchstück eines Briefes des Generals Frossard, in welchem dieser einem anderen Generale mittheilt, der Kaiser habe befohlen, daß die Truppen ihre Käppis ablegen und an die betreffenden Magazine zurückliefern und während des Feldzugs nur ihre „Bonnets de police“ (Feldmützen) tragen sollten.

Nachdem wir noch die von unseren braven Truppen mit einer an’s Wunderbare grenzenden Bravour erstürmte Höhe mühsam erklettert und den Wald nach einem etwa noch Vergessenen durchsucht hatten, passirten wir Speicheren und das daselbst befindliche sehr regelmäßig gebaute französische Laubzeltenlager. Der Humor der deutschen Truppen, welche nach den Franzosen hier bivouakirten, hatte den verschiedenen Zeltstraßen Namen gegeben; so lasen wir verschiedene Inschriften, wie „Kleine Lulustraße“, „Japanesenstraße“, „Zum blutigen Knochen“ etc.

In Saarbrücken war es auch, wo wir zum ersten Male reichliche Arbeit fanden. Es galt die Verwundeten in den Privathäusern, wo sie theilweise noch ohne ärztliche Pflege lagen, aufzusuchen und sie in den Lazarethen unterzubringen. Namentlich machten sich unsere mittlerweile nachgekommenen Aerzte, die Herren Dr. Kupferberg und Dr. Brellinger, durch ihren unermüdlichen Eifer außerordentlich verdient. Es ist wahrlich keine leichte Aufgabe, die sich die Sanitätscorps gestellt haben. Wie manchmal schreckte ich anfangs zurück beim Anblick der entsetzlichen eiternden Wunden, doch wie sehr lohnt nicht ein dankbarer Blick, ein warmer Händedruck der armen Leidenden! Der fortwährende Anblick des gräßlichen Elends, des unsäglichen Jammers stumpft schließlich auch das weichste Gemüth ab, – ich begriff, daß man im Kriege überhaupt lernen müsse, sich das Grübeln und Fühlen abzugewöhnen.

Endlich kam der erwünschte Befehl zum Vorgehen nach Frankreich. Es wurde soeben vor Metz bei Pange geschlagen. Auf dem Bahnhofe trafen wir noch zwei von unseren Mainzer Freunden, welche mit sieben Waggons voll Verbandzeug und Mundvorräthen eben angekommen waren und gleich uns per Bahn sofort nach dem Schlachtfelde, zunächst nach Courcelles, vorrücken sollten.

Gegen fünf Uhr Abends trafen wir in Courcelles ein. Rasch wurden die Vorräthe auf die Bahren geladen und nun ging es vorwärts. Unsere Expedition bestand aus circa sechszig Personen (ein Theil des Bonner Studentencorps unter Führung des Professor Held hatte sich uns angeschlossen) und wurde von den Johannitern von Stülpnagel und von Kottwitz, beide beritten, geführt.

Wir marschirten auf der Chaussee nach Metz vor. Links und rechts lagerten Truppen bei den Bivouacfeuern. Die Nacht brach herein, eine Nacht so finster, daß man kaum die Hand vor den Augen sehen konnte. Immer seltener wurden die Lagerfeuer immer undurchdringlicher die Finsterniß. Endlich, es war gegen zehn Uhr, machten wir bei einem der letzten Bivouacs Halt, um uns nach der Lage des Schlachtfeldes zu erkundigen. Der betreffende Officier sagte uns, daß dasselbe rechts vor uns läge, machte uns aber zugleich darauf aufmerksam, daß wir jetzt die Vorpostenlinie verließen, und uns daher in Acht nehmen sollten, in der Dunkelheit beschossen zu werden. Die Vorsicht gebot, daß wir die Neutralitätsflagge entfalteten, deren weißes Feld auch in der Nacht weithin sichtbar ist, und mir wurde der Auftrag, dieselbe dem Corps vorauszutragen. Einer der Bonner Herren, der mit mir dem Zuge voranschritt, erzählte mir, daß er von England gekommen sei, um als Freiwilliger in die Armee einzutreten; da er aber als englischer Bürger nicht habe angenommen werden können, sei er nun dem Bonner Corps beigetreten. Es war der junge Wolfgang Freiligrath, der Sohn unseres Dichters.

Plötzlich wurde unser Marsch gehemmt. Von rechts her kamen singend, querfeldein über die Chaussee, drei Cavallerieregimenter gezogen, welche das Schlachtfeld abpatrouillirt hatten und nun in ihre Nachtquartiere rückten. Es war ein eigenthümlicher Anblick, wie diese kräftigen Reitergestalten durch die Nacht dahinzogen. Zuerst Uhlanen mit ihren flatternden Fähnchen, dann Kürassiere, welche in ihren weißen Uniformen und ehernen Harnischen gespenstisch genug aussahen, dann wieder Uhlanen – ein endloser Zug. Und nun ging es wieder vorwärts, in die Nacht hinein und immer wieder vorwärts. Keiner wußte, wo wir uns befanden.

Endlich tauchte links am Wege aus der Dunkelheit eine unförmliche Masse auf. „Laternen vor!“ tönte das Commando. Schnell war Licht geschafft. Ein einsames düsteres Gebäude stand vor uns; es trug die Inschrift: „Chagny la Horgne“. Wir traten in den Hof – Alles öd’ und still. An der Thür des Wohnhauses lehnten friedlich ein Chassepot und ein Zündnadelgewehr; auf dem Flur und in dem ersten Zimmer lagen blutige Flecken Leinwand, ein Zeichen, daß hier ein Verbandplatz gewesen; wir mußten also dem Schlachtfelde nahe sein. Das ganze Gehöft war verlassen, nirgends eine Seele zu finden.

„Gehen wir vorwärts,“ hieß es, und vorwärts ging es, lautlos vorwärts. Nach einer weiteren Viertelstunde kamen wir in ein Dorf, es war Ars Laquenexy. Ein Hund bellte, – dort müssen Menschen sein. Man klopft, vergebens – Niemand antwortet. Man sprengt die Thür – Alles ist verlassen, Niemand zu finden. Und so ist es im ganzen Dorfe – kein Laut regt sich, alle Einwohner sind geflohen. Wir standen mitten unter den Zeichen des Lebens in einer schrecklichen Einöde.

Da erscheint wie ein rettender Engel eine Ordonnanz, es ist ein Unterofficier vom fünfzehnten Regiment, der uns sagt, daß wir weiter rechts ein Feldlazareth treffen würden; Näheres weiß auch er nicht anzugeben.

Wir wanderten also wiederum dahin, in lautloser Stille, querfeldein über pfadlose Wiesen und Felder, die im Grauen der Nacht fast endlos gebreitet vor uns lagen. Im Osten stieg jetzt der Mond empor, riesengroß, blutigroth, als spiegle er sich im Blute, das hier geflossen.

Parkähnliche Anlagen, sorgfältig mit Sand bestreute Alleen, in welche wir nunmehr kamen, deuteten uns die Nähe eines Schlosses, und bald sahen wir dasselbe mondbeschienen vor uns liegen. Es war das Schloß von Aubigny; die Fahne der Johanniter wehte vom Giebel.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 634. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_634.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)