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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

zog vorüber, und seine Reiter und Fahnen hoben sich dunkel von dem glühenden Abendhimmel ab.

Vor dem Dorfe an einem Kreuzwege hielt die Feldpost – so viel Briefe und Correspondenzkarten wie an diesem Abende hat sie wohl selten aufzunehmen gehabt. Aus jedem Gliede fast sprang ein Mann hervor, der rasch im Vorbeigehen seine Grüße in die Heimath hier abgab, und „daß er gesund geblieben“. Officiere, Soldaten, Marketender standen am Wege, unter den Vorüberziehenden nach Freunden und Bekannten suchend, manch heitern Zuruf, manche traurige Nachricht empfangend.

Seitwärts und auf den Feldern hinter uns breitete sich ein endloser Wagenpark aus, der sich mit Lebhaftigkeit zum Aufbruch rüstete.

An der nach St. Marie sich hinziehenden Abdachung lagerten die preußischen Garden, die Kampfgenossen vom vergangenen Tage; so weit das Auge sehen konnte, deutsche Soldaten, deren Helme und Waffen in der roth untergehenden Sonne blitzten – ein Bild, malerischer und erhebender nicht zu denken.

Der Weg nach Paris wurde wieder aufgenommen; –die Sachsen sollten bei Hatriz Bivouac beziehen.

Als wir St. Marie aux Chênes uns näherten, änderte die Scene ihren Charakter. Die Sonne war untergegangen, ein klarer Himmel geblieben. Auf der weiten Fläche aber, die sich muldenartig senkte und hob, flammte Feuer auf Feuer empor, erst vereinzelt und durch große Zwischenräume unterbrochen, allmählich aber in regelmäßiger Abwechselung den Vordergrund erfüllend. Und immer weiter dem Horizonte zu blitzten neue Lichter auf, wie die vorangezogenen Regimenter ihre Halteplätze erreicht hatten. Als wir nahe genug kamen, hörten wir schon den Gruß „Guten Abend, Sachsen!“ welcher mit „Guten Abend, Garden!“ erwidert wurde. Und die ganze Linie entlang wiederholte sich das Grüßen.

Die Preußen waren bereits in voller Vorbereitung, „die Maschine wieder zu heizen“, welche Frankreich „den Standpunkt klar machen soll“. Schon von Weitem hatte ich ein ganz eigenthümliches Geräusch vernommen das das ganze Lager erfüllte; je mehr wir uns näherten, um so lauter wurde es, ein tausendfaches Geklapper ohne Tact und Rhythmus, aber mit ungemeiner Beflissenheit ausgeführt, von dem ich nicht wegkriegen konnte, was es bedeuten sollte, bis ich endlich am ersten Feuer jeden Mann eifrig beschäftigt sah, mit dem Seitengewehr auf einem Brettchen ein Stück Rindfleisch zu bearbeiten – „Beefsteak“ wurde gemacht.

Es leuchtete mir sofort ein, daß diese scharfe Ansprache auch das zäheste Gemüth erweichen müsse, und ich sprach mich demgemäß anerkennend aus.

„Ja, ’t is schon richtig,“ sagte der Angeredete, indem er einen Augenblick still hielt und lächelnd in die Höhe sah. „Wir müssen nur ’n Bischen viel Holz mit ’rein fressen. Na, dat schadt och nischt – et reinigt den Magen ’mal wieder von die vielen Leckereien.“ Damit hämmerte er weiter.

Da die Straße durch das Dorf St. Macie aux Chênes einen beträchtlichen Bogen machte, schlug ich, um auf unsern Lagerplatz zu kommen, den kürzern Weg über das Schlachtfeld und durch das Bivouac der Garden ein. Welch emsiges Leben! Ueberall schon flammten die Feuer, jedes von einer lustig hantirenden Gesellschaft umgeben. Der Eine hatte für Brennmaterial zu sorgen, das er nahm, wo er es fand; Andere schafften Stroh für die Lagerstätten, Wasser, um den Reis, Kartoffeln oder Kaffee zu kochen, herbei. Die Beaufsichtigung der an dem Feuer stehenden Feldkessel ist wieder ein Amt, das eine Kraft für sich verlangt. Die Arbeitstheilung ist auf das Höchste entwickelt, und man soll nicht sagen, daß sie den Menschen zur Maschine macht.

Welche Umsicht ist nicht nothwendig bei der Aufsuchung der Vorräthe, die in den verlassenen Dörfern allenfalls noch angetroffen werden könnten! Wie oft wird sie getäuscht! – bisweilen auch in unerwarteter Weise belohnt! Da rollt Einer jubelnd ein Faß Wein vor sich her, das in einer Scheune vergessen worden war - er war aber auf der Strohjagd. Zwei Andere, die nach Eiern oder irgend sonstigen Delicatessen ausgegangen waren, kommen mit einigen fünfzig französischen Garden zurück, die sie in einem Versteck aufgegriffen haben – erbarmungswürdige Gestalten, durch vierundzwanzigstündige Angst und Entbehrung verschlottert. Sie werden „zu den Uebrigen gelegt“; – ein Huhn, und wenn auch noch so alt, wäre dem Finder lieber gewesen. Das Unglaublichste wird zusammengeschleppt, was sich nicht essen läßt, läßt sich wenigstens verbrennen.

Plötzlich tönt ein Signal durch das Lager, und das noch so lebhafte Getreibe beruhigt sich. Allgemeines Gebet – gewiß in wenig Kirchen mit gleicher Weise gebetet. Und dann beginnt die volle Regimentsmusik den Choral „Nun danket Alle Gott!“ Alle Kehlen und alle Herzen singen mit in die stille Nacht, und weithin ziehen die deutschen Klänge über die fremde Erde.

Es giebt gewisse Eindrücke, denen so leicht sich wahrscheinlich kein Gemüth entziehen kann – der erste Anblick des Meeres, die Stille über den lebensleeren Gletschern der Hochalpen, die Wüste Sahara, die Fälle des Niagara – ergreifender aber kann keiner gedacht werden, als das Gebet von Tausenden, die, einem vielfachen Tode entgangen, leidenschaftslos sich in dem Ausdruck eines einzigen Dankgefühles sammeln, von Tausenden, die man in der Nacht nicht sieht, deren vereinigte Stimmen aber die Luft mächtiger zur Empfindung bringt, als der Tag die Menge zeigen könnte. Und wie der Gesang verhallte, war manches Auge feucht – die Handgriffe, welche gedankenlos in der kleinen Feldwirthschaft noch zu leisten waren, wurden still verrichtet, es mußte aus dieser ernsten Stimmung sich erst wieder ein Uebergang finden.

Der ließ auch nicht lange warten. –

„Die Wacht am Rhein“! – kaum klang die Melodie aus den ersten Tönen der Musik, die von nun an „Freiconcert“ gab, als Alles einfiel und mit freudigster Kraftanstrengung dem Vaterlande versicherte, was überdies in den letzten vier Wochen mit einer an Einstimmigkeit grenzenden Majorität allerorten schon behauptet worden war, daß es nämlich ganz ruhig sein könne.

Ich fand dagegen auch nicht das Geringste einzuwenden, denn die Leute, die dies in allen Stimmlagen aussprachen waren die preußischen Garden, und die hatten Tags vorher bewiesen, daß die nächstliegenden Geschäfte des Vaterlandes keine promptere Erledigung finden könnten, als durch sie. Aber ich freute mich doch darüber, und herzhaft mitsingend – wenn ich das singen nennen darf – zog ich mit meinen Leuten, die ich hinter dem Dorfe wieder traf, weiter.

„Gute Nacht, Garden!“

„Gute Nacht, Sachsen – auf Wiedersehen – wie gestern!“

Ein herrlicher Marsch. Das ganze Gelände vor uns strahlte von tausend und abertausend Feuern wieder. Von allen Seiten Musik und Gesang, hier von dem Lagerfeuer am Wege ein übermüthiger Gassenhauer, dazwischen durch von fernher abgerissen der Choral eines Regimentes, das eben erst die Gewehre zusammengestellt hatte.

Als wir an unsern Lagerplatz kamen und unsere Wirthschaft einrichten konnten, war es ziemlich spät geworden. Von dem mitgetriebenen Vieh wurde geschlachtet, was nöthig war, die Ochsen zerlegt und compagnieweise vertheilt und immer weiter zergliedert, bis jeder Einzelne sein Stück, warm, wie’s von der Kuh kommt, unter den Säbel nehmen konnte, um ihm die Gare zu erleichtern. Den Erfolg dieser Bemühungen konnte ich nun selbst probiren – ich will gerade kein großes Rühmen davon machen. Es war gut, daß wir mit den Kinnladen den Tag über wenig zu thun gehabt hatten, denn es hieß die Zähne verzweifelt hoch heben. Aber es ging und gute Laune war ein vortreffliches Gewürz. Der Sergeant hatte mit Hülfe einiger zusammengelesenen Franzosensättel einen kunstreichen Divan bauen lassen, der mir auf das Freundlichste angeboten wurde. Und so lagen wir fröhlich und guter Dinge um das Feuer, und ließen uns schmecken, was es gab. Für Alle dasselbe Gericht der Speisekarte; nur Zweien hatte das Schicksal den Griff in eine glückbringendere Urne gestattet: sie hatten auf dem Wege des Wildfrevels ein Kaninchen erbeutet, das der Eine – der Rothe genannt – an den Hinterläufen in die Höhe hielt, während der Andere sich bemühte, das Fell herunterzuschälen.

„Wie seid Ihr denn dazu gekommen?“ frug die ganze Gesellschaft wie aus einem Munde.

„Ja, das war zum Todtlachen – der Hase da –“ er nannte das Thier seinem Magen zu Gefallen immer einen Hasen, – „den hat der Rothe heute gefangen, weil er gestern keinen Franzosen kriegen konnte. Er hatte sich partout in den Kopf gesetzt, einen lebendigen Franzosen zu greifen – Wackele nicht so – sonst schneid’ ich mich in die Finger.“

„Lieb’ Vaterland, kannst ruhig sein,
Fest steht und treu die Wacht am Rhein!“

klang es aus der Nachbarschaft herüber.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 644. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_644.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)