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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)


mich, so schnell ich könnte, auf dem Anger verstecken, damit nur Eure Augen nicht beleidigt würden.“ Er schritt rasch weiter, während er so sprach, und der Schwarm folgte ihm unverdrossen, denn die Neugier war doch größer als die Beleidigung.

„Aber Joseph, Du warst auch gar zu scheußlich anzusehen!“ entschuldigte sich ein lümmelhafter Ackerknecht. „Den Mädels verging ja Essen und Trinken, wenn Du kamst!“

„Ja wohl – ich war garstig und arm dazu – und es war so lustig einen armen Teufel zu mißhandeln, der sich nicht wehren durfte, weil er mit seiner kranken Mutter auf Gemeindekosten ernährt wurde! Seit ich auf der Welt bin, habe ich nichts gekannt als Hunger, Spott und Schande –! Das vergißt sich nicht so rasch, wißt Ihr?!“

„Wie er jetzt reden kann!“ riefen die Leute, die gar nicht aus ihrem Erstaunen herauskamen. Denn der unglückliche Mensch hatte früher nur unverständlich lallen können, weil ihm die Nase fehlte und der Luftstrom, ohne sich formen zu lassen, durch die fast dreieckige Oeffnung ging. Deshalb hatten sie ihn auch Alle für eine Art Halbsimpel gehalten und ihn nicht besser behandelt als ein Thier, eher schlechter, denn das Thier brachte ihnen Nutzen, aber die elende Mißgeburt war der Gemeinde nur lästig und zu nichts brauchbar als zum Viehhüten.

„Ist’s denn nur auch der Joseph?“ fragten Einige, denen in ihrer grenzenlosen Verwunderung der Gedanke an eine Mystification aufstieg. Sie fanden Anklang.

„Am Ende ist er’s gar nicht!“ stimmten Mehrere bei. „Am Ende ist’s Einer, den er hergeschickt hat, daß er uns für Narren halte!“

„Freilich bin ich’s,“ sagte Joseph und hielt vor einer baufälligen Hütte an; „fragt nur meine Mutter, die wird’s Euch schon sagen!“

Er trat in die Hütte und der ganze Schwarm, soweit der kleine Raum es gestattete, mit ihm.

Joseph’s Mutter schleppte sich den Eintretenden mühsam entgegen, sie musterte Joseph mit erstaunten neugierigen Blicken und fragte nach seinem Begehr.

„Da seht Ihr’s, er ist’s gar nicht, die eigene Mutter müßte ihn doch kennen,“ schrieen die Zweifler, die immer mehr Anhang fanden.

„Nu warte, Bürschli, – wir wollen Dir das Zumbestenhaben austreiben!“ drohten die Leute und hoben die Fäuste auf.

„Mutter!“ rief der bedrängte Dorfdemetrius. „Müetti, kennt Ihr denn Euren Sohn nicht mehr?“

Da zuckte es über das Gesicht der kranken Frau, ein Erkennen und doch Zweifeln, weil das Erkannte gar zu unbegreiflich war. „Herr Jesus, kann’s denn sein? Du – Ihr – wärt der Joseph? Aber – nein – Ihr, Ihr habt ja eine Nase!“

„Ja, Mutter, ich habe eine – und ich bin doch der Joseph! Glaubt’s nur, gute Mutter! Ich hab’s Euch nicht sagen wollen, wohin ich ging, weil ich ja nicht wissen konnte, ob’s gelingt, und dann hättet Ihr nur neuen Kummer gehabt und das ganze Dorf hätte mich ausgelacht. Ich war in der Stadt, Mutter, und habe mich operiren lassen; schaut her! Da und da könnt Ihr die Narben noch sehen. Glaubt Ihr nun, daß ich’s bin?“

Die Frau hatte jetzt Alles begriffen; aber die Freude, die über das arme, nur an das Elend gewöhnte Weib kam, war zu groß! Sie war einst fast irrsinnig geworden vor Schrecken, als sie die Mißgestalt geboren, und sie hatte das entsetzliche Geschöpf doch treulich als Mutter gesäugt und geliebt. Alle die Mißhandlungen, die es erlitt, jedes Scheltwort und jeder Schrei des Abscheus, der ihm galt, hatte ihr Mutterherz tausendfach zerfleischt, und sie hatte nicht mehr gewagt, sich unter andere Mütter mit „rechten Kindern“ zu stellen, denn sie sahen so verächtlich auf sie und ihr armes Kind herab. Und jetzt, jetzt war das Alles mit Einem Schlage anders, ihr Sohn war aus einem Schreckbild zu einem hübschen Menschen verwandelt, er war kein Ausgestoßener unter den Anderen mehr! Sie konnte es nicht fassen; es wirbelte ihr im Kopfe und flimmerte ihr vor den Augen; und sie fiel Joseph taumelnd in die Arme. „Mein Sohn, – mein Sohn – hat eine Nase!“ war Alles; was sie sagen konnte.

Die Umstehenden waren ganz still geworden, und als ein paar kleine Buben anfangen wollten zu lachen, gaben ihnen die Männer Ohrfeigen.

Die Mutter schluchzte eine Weile wie betäubt an der Brust des wiedergeborenen Sohnes; dann hob sie den Kopf und befühlte leise, leise mit zitterndem Finger die Nase, welche Joseph mit so vielem Stolz sein Eigen nannte.

„Hält sie auch fest?“ fragte sie besorgt.

„Ganz fest, verlaßt Euch drauf, Müetti!“

„Nun, unserm Herrgott sei Dank und dem braven Mann, der Dir geholfen hat!“ sprach sie unter heißen Thränen.

„Ja, Mutter, das ist wirklich ein braver Mann; ich meine, so einen giebt’s nicht zum zweiten Male auf der Welt. Vor sechs Wochen kam er in einem Wagen hier durch, und als er mich sah, ließ er halten und fragte mich, wer ich sei und ob ich mich nicht operiren lassen wolle – er wolle mir eine Nase machen. Ihr könnt Euch denken, daß ich einschlug, und er wollte mich gleich mitnehmen; ich sagte ihm aber, ich müsse zuerst meiner Mutter Adieu sagen, und so folgte ich ihm anderen Tages nach. O – Ihr könnt’s glauben, bei dem Manne ist man wie im Himmel!“

„Wie heißt er?“ riefen die Mutter und die Leute alle zusammen.

„’s ist ein ganz junger Doctor und doch schon so geschickt, er heißt Herr Doctor-Baron von Salten. Er ist erst seit einem Vierteljahr Arzt; aber die Leute sagen, er thue Wunder, und die Leute, die dabei waren, als er mich operirte, haben ihm alle großes Lob gegeben.“

„Hm,“ sagten die Bauern, „was man heutzutage nicht Alles machen kann! Aber Joseph, – was hast denn dafür bezahlen müssen?“

„Nichts, gar nichts!“ sagte Joseph. „Er hat mir noch was dazu gegeben, und er will auf’s Dorf kommen und mit dem Herrn Lehrer und Pfarrer über mich sprechen, wie mir weiter zu helfen sei!“

Die Leute schlugen die Hände zusammen. Aber die alten Weiber draußen vor der Thür schüttelten die Köpfe und flüsterten unter sich: es sei doch eine Sünde, wenn man sein Gesicht anders mache, als der liebe Gott gewollt. Denn wenn der liebe Gott den Joseph habe ohne Nase zur Welt kommen lassen, so habe er wohl gewußt warum, und der Joseph habe da nicht eigenmächtig daran herumpfuschen sollen. Es hatte eine gar eigene Bewandtniß mit dem Joseph, das wußten sie alle. Seine Mutter hatte seinen Vater gegen den Willen ihrer Eltern geheirathet. Es war ein blutarmer Anstreicher von Zürich, und als sie ein halbes Jahr verheirathet waren, fiel der Mann von einem Gerüst herunter und war todt. Die Frau kam in’s Dorf zurück und sechs Monate später gebar sie den Joseph. Dem armen Kinde fehlte die Nase. Das war die Strafe für den Ungehorsam gegen ihre Eltern, und wenn der Joseph jetzt auch in seiner Eitelkeit diese Strafe abgewendet habe, so werde der liebe Gott sie schon wo anders zu packen wissen. – So erzählten sich die alten Weiber, und sie hatten sich so fest in die Fäden ihrer interessanten Unterhaltung eingesponnen, daß sie fast nicht mehr schnell genug auseinanderkamen, als ein herrschaftlicher Wagen vor der Hütte anfuhr.

„Das ist er, das ist der Herr Doctor-Baron!“ rief Joseph und stürzte nach dem Wagen hin, den Schlag zu öffnen.

Wenn ein Fürst angekommen wäre, es hätte nicht mehr Aufsehen erregen können als die Ankunft des Wunderdoctors, der den Leuten nach Belieben andere Gesichter machte. Alles drängte sich heran, grüßte, knixte – Alfred konnte mit seiner Mutter kaum den Fuß aus dem Wagen setzen, ohne auf ein paar Bauernfüße zu treten, die dicht umherstanden. Er schaute sich nach einer Richtung um, von wo Pferdegetrappel erscholl und gleichzeitig die herrliche Gestalten Anna’s und Victor’s hoch zu Roß sichtbar wurden, die in vollem Galopp nachgesprengt kamen. Jetzt fuhren die Leute auseinander und hielten sich in stummer Verwunderung von fern.

„Herr Doctor-Baron,“ sagte Joseph freudestrahlend, „hier ist meine Mutter, die möchte Ihnen gerne auch für meine Nase danken, wenn Sie ’s erlauben.“

Die kranke Frau überschwemmte Alfred’s Hand buchstäblich mit Thränen und Küssen, während Alfred zerstreut auf Anna blickte, die wenig Sinn für dies Schauspiel zeigte und sich angelegentlich mit Victor unterhielt.

„Nun, Mutter,“ flüsterte der junge Doctor Adelheid zu, „ist das nicht ein reicher Lohn für alle Mühe?“

„Ich verstehe Dich, mein Sohn,“ sagte sie gerührt und wandte sich nach Aenny um.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 663. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_663.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)