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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

hol’ mich der Teufel! Pardon! vor Ihnen darf man ja nicht fluchen. – Aber wie so die Menschen wieder zusammenkommen! Dort in Böhmen im Choleralazareth in Brünn – und hier um nachtschlafende Zeit bei den Parlewus, da mach’ sich Kutschke im Bivouac einen Vers drauf. Dort kommt die Ablösung.“

Die Schwester geht über den Hof nach dem Eingange zu, der von der Rückseite in das Hauptgebäude des Schlosses führt. Sie tritt in ein kleines Vorgemach, welches die Verbindung zwischen den nach dem Park hinaus gelegenen Salons und dem Speisesaal herstellt; der Boden ist mit schwarz und weißem Marmor belegt, die Wände sind getäfelt und hell gestrichen, in den Ecken stehen kleine elegante Tische mit chinesischen Porcellanvasen, und auf den leichten, eleganten weiß lackirten Sesseln im Geschmacke Ludwig’s des Sechszehnten sitzen drei Ordonnanzen von der Stabswache, die etwas ermüdet in den frischen Morgen und in das Gesicht der Nonne blicken; sie haben die ganze Nacht gewacht.

Die Franziskanerin fragt, ob sie nicht einen Officier sprechen könne, und erhält die Antwort, daß der Officier du jour im Bureau sei. Derselbe muß die Nacht über daselbst wachend verbringen, jede ankommende Depesche oder Meldung öffnen und je nach Befinden der Wichtigkeit derselben den Chef des Generalstabes oder den Generalquartiermeister wecken. Leise klopft die Nonne an die Thür, und zögernd tritt sie auf ein kräftiges „Herein!“ in ein weites, elegant eingerichtetes Gemach. Die Fenster desselben gehen fast bis auf die Erde; in der Mitte desselben steht ein großes Billard mit Acten und einer Section der großen Generalstabskarte von Frankreich bedeckt. Ueberall sind Tische angebracht, früher dienten dieselben dem kurzweiligen Zeitvertreib, auf dem grünen Tuche wurden die Whistrobber ausgespielt; Karten liegen jetzt zwar auch noch da, aber ohne Zahlen und Bilder, Karten, die kein Spiel verlieren, wohl aber einem solchen gewissenlosen und frevelhaften ein Ende machen wollen; diese Tische passen in ihrer nüchternen, geschäftsmäßigen Ausstattung mit Schreib- und Arbeitsmaterial wenig zu den Oelbildern in goldenen Rahmen, die an den Wänden hängen, zu den Etageren mit den zierlichen Nippes, den kostbaren Lampen und Uhren, zu dem rothen, schwellenden Sopha, von dem ein Officier beim Eintritt der Frauengestalt emporspringt.

„Verzeihen Sie, mein Herr,“ hebt die Schwester leise an, „wenn ich Sie mit einer Bitte belästige –“

„Ihnen, Schwester Aloysia, sei jede im Voraus gewährt, voraussichtlich, daß Sie nicht wünschen, durch die Vorposten hindurch nach Metz hinein zu wollen. Darf ich Sie bitten, Platz zu nehmen, Schwester Aloysia?“

„Sie kennen mich, mein Herr?“

„Vom Kriegsschauplatze 1864 in Schleswig her, aus unseren Spitälern. Mein Name ist v. W.“

„Ei, da scheine ich ja unter lauter Bekannten zu sein. Sie, Herr Lieutenant, sind schon der Zweite, der an diesem Morgen das angenehme Recht alter Bekanntschaft anruft, umsomehr darf ich also hoffen, daß Sie meine Bitte mir erfüllen werden. In dieser Nacht ist wieder einer unserer Verwundeten hinübergegangen, Rettung war nicht mehr möglich trotz aller angewandten Pflege. Er war in letzter Zeit fast nicht mehr aus dem Delirium gekommen – nur in dieser Nacht schienen die Schleier seines Geistes sich zu lüften – während er sonst im Fieberwahne fast unaufhörlich tobte, war er plötzlich stille geworden und rief mich an sein Bett. ‚Nehmen Sie, Schwester, Dinte, Feder und Papier, und schreiben Sie, was ich Ihnen sagen werde, aber schnell – schnell.‘ Ich genügte seinem Willen – setzte mich hin; mit schwacher Stimme, aber vollkommen gedankenklar dictirte er mir diesen Brief. Als er damit fertig war, sagte er mir auch die Adresse und bat mich, den Brief an dieselbe gelangen zu lassen – den letzten, wie er hinzufügte. Er hätte wahr gesprochen, eine Stunde darauf war er todt, und ich bringe Ihnen den Brief mit der Bitte, den letzten Wunsch des Geschiedenen zu erfüllen. Nach der Adresse war er der Sohn armer Leute in der Nähe von Elberfeld.“

„Darf ich den Brief lesen, liebe Schwester?“

„Darum habe ich ihn unverschlossen übergeben, Herr Lieutenant.“

Der Brief lautete:

 „Liebe Eltern!

Wenn Ihr diesen Brief erhaltet, werde ich nicht mehr am Leben sein. Mein letzter Wunsch ist, grämt Euch nicht und erfüllet meine letzte Bitte. Ich danke Euch für alles – alles Gute, was Ihr mir gethan, bltte auch alles Böse ab, wodurch ich Euch Kummer und Sorge gemacht habe. Grüßet, liebe Eltern, alle Bekannte und Verwandte von Eurem, wenn ich Euch auch oft Sorge und Kummer verursacht, aber immer mit der aufrichtigsten Liebe und Dankbarkeit beseelten Sohne Wilhelm. Liebes Mütterchen, also nicht gegrämt – heute roth – morgen todt – ist des Soldaten Loos. Gott schütze unser theures Vaterland und unsern großen König! – Phylax, treue Seele - was machst Du?“

„Gut, gut, liebe Schwester, dieser Brief soll besorgt werden – sogleich – sogleich -“

„Sie scheinen nicht weniger davon gerührt zu sein, als ich es im Schreiben war, Herr Lieutenant.“

„Gerührt? Dazu hat man im Kriege keine Zeit. Wohin sollte auch der volle gewaltige Strom des Gefühles, wenn man die ganze Fülle des Erlebten zusammennimmt und jedem Einzelnen sein heiliges Erinnerungsrecht gönnen wollte? Aber der Brief soll besorgt werden, liebe Schwester.“

„Ach die Tauben, die lieben Thierchen!“ rief die Schwester plötzlich aus, indem ihr Blick auf einen kleinen Holzkäfig gefallen war, in welchem zwei weiße Tauben saßen.

„Nicht wahr, diese Symbole des Friedens hier an dem Mittelpunkte des Krieges? Dieser Käfig mit den Tauben war einem der Ballons angehängt, welchen die Belagerten von Metz aufsteigen lassen, um Correspondenzen nach Frankreich an ihre Angehörigen oder Freunde zu befördern, in der Hoffnung, daß der Ballon mit den angebundenen Briefpacketen unter französischer Bevölkerung niederfalle. Letztere ist aufgefordert, diese Packete bei der nächsten Briefpost aufzugeben. In den Packeten sind Tausende von kleinen Zetteln mit Adresse und kurzen persönlichen Nachrichten. Gewöhnlich wird diese Luftpost aber von unseren Soldaten aufgefangen. Der letzten war dieser Taubenkäfig unten am Ballon angehängt – es sind Brieftauben, welche höchst wahrscheinlich Nachrichten nach Metz zurückbringen sollten. Sehen Sie hier, die Thierchen haben ein förmliches Geschirr um den Hals und vorn an der Brust ist ein Haken angebracht, an welchem wahrscheinlich die Briefbürde angebracht werden soll, mit der die Taube nach Metz zurückfliegen soll.“

„Und was wird nun aus den allerliebsten Thierchen?“

„Wenn ich eine Verfügung darüber hätte, würde ich sie Ihnen schenken, Schwester Aloysia, da Sie so viel Freude daran zu haben scheinen.“

„Der Prinz soll sie doch seiner Frau Mutter, der Prinzessin Karl von Preußen, schenken, die, wie ich gehört, eine große Taubenliebhaberin ist!“

„Vielleicht geschieht das auch, obwohl unser gnädigster Herr in persönlicher Gesinnung sowohl als entsprechend den Traditionen unseres Königshauses furchtbar penible ist. Am Speicherer Berge wurden von der zweiten Armee zwei Maulthiere von den Franzosen erbeutet; der Prinz ließ dieselben für den Felddienst in das Hauptquartier kommen. Einer der Herren der Umgebung bemerkte, daß dieselben daheim auf dem Jagdschlosse gut zu verwenden wären. ‚Wenn ich sie mitnehmen will, muß ich sie dem Staate abkaufen,‘ war die Antwort des Oberfeldherrn, dessen Macht jetzt über Millionen geht und der es abweist, über ein Paar Maulthiere zu seinem Privatgebrauche zu verfügen.“

Die Nonne hat den Käfig aufgenommen, liebkost die Thierchen, stellt sie dann wieder an den Boden und empfiehlt sich, nicht ohne dem Officier noch einmal den Brief an das Herz gelegt zu haben. Dieser giebt ihr bis an die Thür das Geleite.

Aus der gegenüber liegenden Thür ertönt lautes Gespräch und heiteres Lachen. Der Officier du jour öffnet dieselbe und findet die Herren des Bureaus und die Ordonnanzofficiere am Frühstückstisch versammelt. Früher tafelte in diesem Saale der Besitzer des Schlosses, Seigneur de Rougy et de Corny, beim Ausbruch des Krieges hatte er gefunden, daß ihm mit seiner Familie eine Luftveränderung gut wäre, in Burgund, wo er ebenfalls Besitzungen hat. Die Dienerschaft hatte er zurückgelassen, und nun trinken die preußischen Officiere aus den mit feinem Namenszug verzierten Tassen ihren Morgenkaffee, zu dem es weiter nichts giebt, als ein Stück Brod, und allenfalls die gute Laune. Dieselbe tritt in den Fragen an den Cameraden du jour zu Tage, ob denn der längst erwartete Parlamentär Bazaine’s noch immer nicht habe blasen lassen. Horch! Dieser dumpfe, donnernde Laut! War das nicht ein Kanonenschuß? – Ja wohl, das Fort

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 723. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_723.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)