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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

in St. Blasius übersetzt, denn es geht da oben unaufhörlich ein ganz strammer Luftzug. Nach diesem Punkte bewegt sich eine militärische Cavalcade, voran Prinz Friedrich Karl, der Officier an seiner Seite in der Flügeladjutanten-Uniform ist sein persönlicher Adjutant, Major v. Krosigk, ein in der preußischen Armee berühmter Reiter, dem Oberbefehlshaber folgt der Stab, die beiden andern persönlichen Adjutanten, Rittmeister Graf Canitz und v. Normann, – derselbe, der 1866 in der Nacht vom 2. zum 3. Juli aus dem Hauptquartier des Königs den gefahrvollen und historischen Ritt zum Kronprinzen gemacht hatte, – und die Ordonnanzofficiere; fest und rasch geht es den Berg hinan. Wie die Pferde in der warmen Herbstluft sich tummeln, wie sie im Wohlgefühle derselben die weiten Nüstern heben und die stolzen Mähnen schütteln, wie sie elegant und kräftig in wuchtigem, elastischem Tritt ausschreiten!

Oben auf der Kuppe ist es gar nicht so einsam, als es von unten wohl scheinen möchte. Zwei Compagnien Infanterie, dazu Pioniere, die wissen wohl Leben und Bewegung in diese Mauertrümmer zu bringen. Auf dem Plateau der Kuppe sind Bretterbuden aufgeschlagen; Marketender aus Saarbrücken schenken schal gewordenes Bier aus. Aus den Pächterhäusern, die nach der den Winden am wenigsten ausgesetzten Ostseite liegen, kommt munteres Pfeifen und fröhlicher Gesang; in den Ruinen hat man fliegende Kaffeeküchen etablirt; zwischen zwei Mauertrümmer sind Holzstäbe gelegt, an diesen hängen die brodelnden Kaffeekessel, und die Soldaten lachen, sich am Feuer die Hände wärmend und gedeckt durch die dichten Mauerüberreste, des scharfen Windes, der mit Brausen über die Bergkuppe dahinfährt und meint, er könne einem ehrlichen Deutschen die Laune verderben. Am Tage geht das wohl, wird beim Lesen dieser Zeilen manche besorgte Seele in der Heimath denken, aber wie für die Nächte? Auch dafür wissen unsere Soldaten Rath: dem Umstand, daß die früheren Mönche oder Ritter den Wein sehr geliebt zu haben scheinen, verdanken die Söhne unseres Vaterlandes ganz warme und, den Verhältnissen angemessen, ganz comfortable Lagerstätten, das ganze Plateau ist von Kellerräumen in verschiedenen abgeschlossenen Abtheilungen unterminirt und diese haben sie zu Schlafgemächern eingerichtet.

Aus einem der Pächterhäuser ist ein Geräusch zu vernehmen. Wer hätte nicht schon das tickende Klappern eines arbeitenden Telegraphen gehört. Und diese Töne sind dieselben. Aber hier auf diesem einsamen, kahlen Bergkegel, dieses Merk- und Wahrzeichen der modernen Welt? Und doch! heben wir nur ein wenig den Kopf, über diesem geht der weittragende Draht dahin, unten von Jouy herauf, dort hin nach jenem Hause, aus welchem die Laute kommen.

An der am meisten vorgeschobenen Stelle des Berges ist ein Bretterhaus ausgebaut, in diesem befindet sich ein großer Tubus, zwei Officiere bedienen denselben, d. h. sie machen mit Hülfe desselben ihre Beobachtungen über Alles, was in Metz, was um die Stadt, was in der Stadt, was in der Festung und den Lagern der Franzosen vorgeht, und berichten sobald etwas Außergewöhnliches sich ihrem Auge darbietet, an den Telegraphenbeamten, der sogleich die Meldung hinab nach Corny schickt. Eine solche war es auch, die den Prinzen plötzlich das Diner aufheben und unverweilt nach dem St. Blaise aufbreche ließ.

Thun wir einen Blick durch das Glas, ehe der Oberbefehlshaber das Observatorium betritt.

Der wachhabende Officier richtet das Glas, wirft einen Blick durch dasselbe, nimmt seine Uhr heraus und richtet den Zeiger derselben.

„Verzeihen Sie meine Unwissenheit, Herr Lieutenant, wenn ich Sie frage, was Sie hier machen?“

Der Officier lächelt und antwortet: „Ich richte meine Uhr nach der Domuhr von Metz.“

„Ist es möglich? So nahe wäre die Stadt und wir könnten doch nicht hinein?“

„Oder vielmehr so vortrefflich ist dieses Glas, die Stadt ist vielleicht eindreiviertel Meile entfernt,“ versetzte der Officier. „Schauen Sie nur selbst. Dieses imposante, graue, gothische Gebäude ist die Kathedrale von Metz und die Uhr ist drei Minuten vor halb Fünf.“

Wie die Märchenjungfrau von Riesen, so wird Metz von seinen Forts behütet. Dort links der Riesenbau auf der Spitze des Bergabhanges ist Fort St. Quentin, quervor unter dem Dome Fort St. Julien, rechts Fort Quelen, das stärkste, und unter uns das Fort St. Privat. Das Fort Plappeville kann man nicht sehen; es liegt hinter dem Fort St Quentin zurück. Die Lager der Franzosen sind vor unseren Augen blosgelegt, man sieht die Kochfeuer in denselben und die Soldaten, welche das Holz zutragen; man unterscheidet die Farbe der rothen Hosen von den dunkleren Röcken; man kann die Pferde weiden sehen und einzelne militärische Bewegungen verfolgen. Die Festung ist für uns offen, das heißt für unsere Augen, die Festung und auch die Stadt. Jedes einzelne Haus in der Stadt ist uns sichtbar; wir blicken auf die Plätze, die Promenaden der Stadt, auf denen sich die Einwohner ergehen; vor uns liegt ein freier Platz, auf dem eine Kinderschaar sich tummelt, durch den Reifen springt, Fangens spielt; aus einer Straße kommt ein Zug von halberwachsenen Mädchen, die von zwei Nonnen an die Luft geführt werden; neben dem Dome breitet sich ein langes, elegantes Wohnhaus aus; in den Fenstern desselben kann man deutlich die Spitzengardinen sehen, und jetzt wird eines der Fester geöffnet. Eine Dame lehnt sich zu demselben heraus; sie hält etwas wie einen Strauß in den Händen, sie ordnet die einzelnen Blumen mit ihren graziösen Händen, sie führt ihn an die Lippen. Leider, daß eines der Gebäude die Straße verdeckt, sonst könnte man auch sehen, wer vor dem Fenster vorübergeht und von ihr durch dieses Zeichen im Stillen gegrüßt wird, und könnte man den kleinen Roman am Dome von Metz durch den Tubus von St. Blaise weiter verfolgen.

Wir müssen uns auch zurückziehen; der Höchstcommandirende kommt auf das Observatorium zu. Schließen wir uns einer Gruppe von Officieren verschiedener Waffengattungen an, welche aus den um den St. Blaise umherliegenden Cantonnements herausgekommen ist und sich an einer günstigen Stelle gelagert hat. Einer derselben zeigt seinen Cameraden jedes einzelne größere Haus in Metz, die öffentlichen Militärbildungsanstalten, die Gebäude der Staatsverwaltung, das Palais des Bischofs von Metz, das Theater, die Vergnügungsplätze, die Palais der reichsten Einwohner.

„Aber zum Teufel, lieber P., woher kennen Sie denn das Alles so genau? Wenn Sie vom Generalstab wären, könnte man sich das wohl denken; denn in den letzten Jahren war für die Herren mit den rothen Streifen Metz und Umgegend ein sehr beliebtes Reiseziel.“

„Natürlich,“ entgegnete der Gefragte lächelnd, „man mußte auf einen Strauß mit den Herren Franzosen auf alle Fälle gerüstet sein, und überraschen wollten wir uns nicht gern lassen. Ich habe in dieser Beziehung vorhin eine recht ergötzliche Scene erlebt. Ich stieg mit einem unserer besten Kartographen von Jouy aus herauf; der Herr war in der Uniform der Ingenieurgeographen. Um uns etwas abzukühlen, traten wir in eines der Pächterhäuser. Mein Begleiter begrüßte den Mann und die Frau in einem gewissen vertraulichen Tone, der mir auffiel, weil er eine nähere Bekanntschaft mit den Leuten voraussetzen ließ, und auch die Franzosen machten Miene, als wäre ihnen der Herr bekannt, als wüßten sie nur nicht, um mich eines gewöhnlichen Ausdruckes zu bedienen, wo sie ihn hin thun sollten. Endlich nannte mein Begleiter den Mann und die Frau bei ihren Vornamen. Höchliches Erstaunen derselben, abermalige sehr eingehende Ocularinspection des räthselhaften Prussien, bis dieser dann lachend in die Worte ausbrach: ‚Vater Claude Remy, keunen Sie mich denn nicht mehr?‘

‚Ah, aber nein!‘

‚Ihren Gast vor zwei Jahren während des Sommers?‘

Nun schien den Leuten eine Binde von den Augen zu fallen. Die Uniform war ihnen an meinem Begleiter ungewohnt gewesen und hatte ihren Geistern die Erinnerung verdeckt.

‚Ich wohnte,‘ sagte mir der Geograph beim Weggehen, ‚einen ganzen Sommer hier oben – es war im Jahre 1868 – und hatte mich bei den Leuten eingemiethet; es wollte sie zwar immer sehr sonderbar bedünken, wie ich so großes und langes Gefallen an dieser Aussicht hier oben haben könne. O ja, sagten sie, es kämen wohl Leute aus der Umgegend herauf, aber nur für ein paar Stunden höchstens; so lange wie ich habe sich noch Keiner aufgehalten. Ich machte ihnen aber die Sache plausibel, indem ich mich für einen Maler ausgab; die seien alle, versicherte ich, extraordinaire Menschenkinder, was mir denn die Leute auch nicht widersprachen, und was sie mir um so lieber glaubten, als

ich immer Stift und Papier in der Hand hatte. Sie waren der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 746. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_746.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)