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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)


Aus eigener Kraft.
Von W. v. Hillern geb. Birch.
(Fortsetzung.)

Der Tag der Abreise kam. Es war ein schöner Octobertag. Zum letzten Mal saß die Familie Hösli und Salten auf der Terrasse versammelt, wo Aenny als liebliches Kind so oft mit Lebensgefahr auf der Balustrade zu ihrem Spielgefährten herübergelaufen war. Jetzt saß sie in sich gekehrt, einen harten trotzigen Zug um den schönen Mund, auf einer Bank und wandte Alfred halb den Rücken. Alfred aber sah träumend hinaus auf das sonnenvergoldete Wasser und die rosig angehauchten Berge. Und während sein Auge den gelben Blättern folgte, die der Wind von den Bäumen in den See hinabschüttelte, daß sie dahintrieben wie welke Hoffnungen auf dem Strom des Lebens, zogen vor seinem geistigen Blick alle die holden Stunden vorüber, die er als Knabe mit Aenny zugebracht. Er blätterte noch einmal in dem Bilderbuche seiner Kindheit, bevor er es hinabsenkte in den See mit allen seinen Wünschen und Träumen.

Es herrschte ein banges Schweigen ringsum. Neben Alfred stand Adelheid reisefertig. Nicht weit von ihm saß Frau Hösli. Herr Hösli war zum Ausgehen gerüstet, denn er wollte Alfred bis zur Bahn begleiten. An der Landungsstelle lag der Kahn bereit, die Reisetaschen waren schon darin und der Schiffer wartete, der die Scheidenden nach Zürich hinüberführen sollte. Frank stand bei Anna und redete ihr leise irgend etwas zu. Frau Hösli beschwichtigte die weinende Lilly. – Herr Hösli sah nach der Uhr; „Es ist Zeit,“ sagte er leise. Alle mit Ausnahme Anna’s schraken zusammen, als sei ein Todesurtheil ausgesprochen worden. „Mutter!“ rief Alfred und fing Adelheid in seinen Armen auf. „Mutter, fasse Dich!“ sagte er mit halberstickter Stimme. Die abgezehrte Gestalt lag willenlos in seinen Armen und er fühlte mit Schrecken, wie die kranke Lunge in kurzen Athemzügen rang. Sie war kränker, als er bisher selbst geglaubt.

„Ich wäre so gerne hier gestorben,“ flüsterte sie. „Und ich weiß, auch Du gehst blutenden Herzens von hier fort, mein armer Sohn!“

„Mutter, laß das!“ sagte Alfred mit verhaltenem Schmerz.

„Machen Sie es ihm nicht schwer!“ bat Frau Hösli, und dies eine ruhige Wort verfehlte seine Wirkung nicht. Adelheid raffte sich auf und ließ Alfred aus ihren Armen. Er trat auf Frau Hösli zu, ihre klaren Augen flutheten über. Sie nahm den Kopf des Jünglings in ihre beiden Hände und drückte einen Kuß auf seine Stirn. Er sank vor ihr auf die Kniee und barg das Gesicht in ihrem Schooß. Der Schmerz machte eine Secunde lang sein Recht geltend, er weinte. –

„Kein Abschied, Alfred,“ sagte Frau Hösli, „wer weiß, wie bald wir uns wiedersehen! Gott sei mit Ihnen! Wäre Alles gegangen, wie ich es wünschte, ich hätte Ihnen gern das Beste mitgegeben, was ich zu geben vermag – so aber habe ich nichts für Sie als einen mütterlichen Segen!“

Sie schwieg und zog Alfred vom Boden auf. „Und nun – ein Mann! Und fort!“

Er stand auf und näherte sich Anna; sie erhob sich von der Bank, auf der sie gesessen. Sie sah ihn nicht an, keine Thräne netzte ihr die Wimper, nur eine tiefe Blässe überflog ihr Antlitz.

„Leben Sie wohl, Anna!“

„Reisen Sie glücklich!“ Das war Alles, was sie sich sagten, sie, die sich einst so viel gesagt, die sich jeden Gedanken der Seele vertraut. Es war ein kurzer Abschied nach dem langen Beisammensein und für die lange Trennung!

Er reichte ihr die Hand, sie legte die ihre hinein, kalt, steif, schwer; sie fror im hellen Sonnenschein. Er wartete, ob sie wohl noch etwas sagen werde. Sie zog die Hand ruhig wieder zurück und schwieg. Sie waren zu Ende miteinander. Auch Alfred konnte nicht mehr sprechen. Stumm sank er dem Neger an die Brust und dieser verstand ihn ohne Worte.

„Es ist die höchste Zeit!“ mahnte Herr Hösli nochmals.

„Seien Sie glücklich!“ sagte Adelheid zu Anna, und es lag ein schwerer Vorwurf in ihren Augen, als sie dem Mädchen die Hand reichte.

Anna neigte in einer Art von Demuth vor diesem Blick das Haupt, aber kein Laut drang durch die festverschlossenen Lippen. Man ging zum Kahn. Selbst Frau Hösli ließ sich von Frank in ihrem Rollstuhl nebenher schieben. Anna blieb zurück. Mit verschlungenen Armen lehnte sie auf der Balustrade und schaute dem Einsteigen zu. Es war, als beobachte sie Schatten in einer Camera obscura, so unbeweglich war ihr Gesicht. Sie sah, wie sich die beiden Frauen, ihre und seine Mutter, noch umarmten, wie Tante Lilly sich ein frisches Taschentuch borgte, wie Frank Alfred nochmals die Hand schüttelte, sich bückte und mit einer Anwandlung seiner alten Kraft das Boot vom Lande abstieß. Sie nickte nicht und wehte nicht mit dem Tuche dem vorbeiziehenden Kindertraum nach. Auch Alfred winkte nicht; die Ufer drehten sich im Kreise, lange, lange noch hing sein Blick an der Stätte, die ihre Heimath geworden, wo seines Vaters Geist ihn freundlich geleitet, an Allem, was ihm so lieb gewesen, was er nun verlassen sollte, und je weiter er fortfuhr, je schmerzlicher fühlte er, wie eine Wurzel um die andere riß, mit der er festgewachsen war an diese Ufer, an den heiligen Boden der Kindheit – die sinkende Sonne streute rothe Lichter rings um den Kahn; es war Alfred, als müsse es das Blut seiner eigenen Wunden sein.

„Lebe wohl, lebe wohl!“ erschallte jetzt ein Männerchor von drüben her. Die Züricher Studenten und Professoren, Doctor Zimmermann an der Spitze, kamen den Scheidenden mit zwölf Kähnen von Zürich aus entgegen und umringten Alfred’s Boot. Majestätisch zog das Geschwader dahin unter den wehmüthigen Klängen des Mendelssohn’schen Chors „Lebe wohl, du schöner Wald!“ Endlich waren sie verschwunden und der letzte Ton verhallt. Frau Hösli war von Frank zurückgebracht. Sie trocknete sich die Augen. „Gehst Du mit?“ fragte sie das Mädchen, das noch immer regungslos auf demselben Flecke stand.

„Ich will das Haus abschließen,“ sagte Anna kurz und ihre Stimme hatte jetzt, wie öfter, eine eigenthümliche Härte.

„Wie Du willst!“ sagte Frau Hösli und fuhr vorüber. Frank sah sich bekümmert nach Anna um. Sie blieb unverrückt stehen, bis das Rädergeräusch des Rollwagens verklungen war. Jetzt sah sie sich allein auf der verödeten Terrasse, allein und unbeachtet. Sie that einen tiefen Athemzug. Die Glieder waren ihr so eigenthümlich steif, als hätte sie eine Nacht getanzt. Schweren Schrittes ging sie nach dem Hause, „um abzuschließen“, denn es weilte Niemand mehr dort, die Dienstboten waren schon vor Mittag fortgezogen.

Es war auf einmal so still und öde. Anna fürchtete sich beinahe, als sie in das ausgestorbene Haus trat. Sie meinte bei jedem Schritt, es müsse ihr ein bekanntes Gesicht begegnen. Sie blieb stehen und horchte, es war ihr, als habe Jemand „Anna!“ gerufen. Es war nichts als das Gesumme der Fliegen, die sich mit den Sonnenstäubchen um die Wette tummelten. Dort that sich leise knarrend eine Thür auf. Wer konnte es sein? Es war der Zugwind. – Und wieder blieb es still und todt in dem leeren Hause. Dort, wo die Thür aufgegangen, war Fredy’s ehemaliges Kinderzimmer mit den schweren Gardinen, hinter denen sie immer Versteckens gespielt. Da stand das Bett noch, neben dem sie so oft gesessen und dem armen kranken Knaben Gesellschaft geleistet hatte. Was war’s doch für ein zartes geplagtes Kind, der Alfred – und wie hatte er sich aufgerafft aus freien Stücken, und was hatte er aus sich selbst gemacht! Das hätte sie ihm doch noch sagen sollen beim Scheiden – er hätte es wohl verdient! – Aber wie konnte sie? Er war so kalt und fremd gegen sie. Sollte sie sich ihm aufdrängen? Nein, niemals! Und doch, wäre die dumme Geschichte mit dem Victor nicht gekommen, so wäre er noch da – wäre noch der alte Fredy! –

Sie trat in die anstoßenden Gemächer des Freiherrn, jetzt Alfred’s Schlaf- und Studirzimmer. Sie zögerte fast auf der Schwelle, schickte sich’s denn, daß sie dahinein ging? Warum nicht? Alfred war ja nicht mehr da. Aber es lagen so viele Spuren seines Daseins umher. Beschriebene Papierschnitzel, Zeitungen, Federn, kurz was so beim Einpacken übrig oder vergessen blieb.

Vor seinem Schreibtisch stand noch halb zurückgeschoben sein Stuhl, ein vergessenes Taschentuch lag dabei auf der Erde. Er hatte vielleicht geweint, als er hier die letzten Worte schrieb, und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 771. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_771.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)