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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

– das Dorf Vaux liegt in unmittelbarer Nähe unserer Vorposten. Der Aufenthalt war allerdings verdächtig. Wie kam sie von Nancy zurück nach Vaux, was hatte sie hier zu thun, wenn sie nicht den Zweck verfolgte, Nachrichten über die Stellung unserer Truppen zu sammeln? Hätten wir es hier wirklich mit einer raffinirten Gaunerin zu thun? Es wäre entsetzlich. Dann ist in Zukunft jedes Mitleid mit fremdem Elende eine Schwäche, ein Wagniß, ein Unrecht.

„Wohin wird die Dame gebracht?“ frug ich den Gensd’arm weiter.

„Nach Corny, zum Chef der Feld-Gensd’armerie, zum Oberst Kurt.“

Ich habe die Ehre, den genannten Officier zu kennen; wenn ein Gensd’armerie-Oberst liebenswürdig sein kann, so ist er es, dabei rechtwollend und verständig.

Ich ging nach Corny zurück und nahm meinen Weg nach der Wohnung des genannten Stabsofficiers. Der Bursche sagte mir beim Eintreten in die Wohnung, daß eine Dame zu dem Herrn Obersten gebracht worden sei. Ich konnte aus dem Nebenzimmer die Stimme des letzteren ganz deutlich vernehmen; die Thür stand etwas offen.

„Sie sind in Vaux im Garten des Herrn Curé von einem meiner Leute arretirt worden?“

„Ja! Warum, mein Herr? Was habe ich verbrochen? Der Herr Gensd’arm kam plötzlich auf mich zu, als ich mit dem Herrn Curé im Garten auf und nieder ging. Ist es ein Verbrechen mit einem so würdigen Manne spazieren zu gehen?“

„O bitte, gewiß nicht, Madame! Gehen Sie mit dem Herrn so viel als Sie wollen, wir treten Privatvergnügungen niemals hindernd in den Weg. – Aber sagen Sie mir, sind Sie nicht – bitte um Vergebung – ich muß nur eine Depesche einsehen, die mir zugegangen ist – richtig – hier ist das Datum – sind Sie nicht an diesem Tage, der hier verzeichnet steht, mit einem jungen Manne auf der Straße von Novéant nach Ars sur Moselle gegangen?“

„Gewiß, mein Herr. Ich ging mit dem jungen Manne zu Fuß nach Vaux, weil in Novéant der Zug einige Stunden sich aufhielt wegen einiger Granaten, die in den Bahnhof von Ars sur Moselle von St. Quentin eingeschlagen hatten, so sagte man wenigstens in Novéant. Ich wäre durch diesen Aufenthalt in die Nacht gekommen, und zu dieser Zeit in einem mir ganz fremden Hause einzutreffen, das ist für beide Theile nicht angenehm; also zog ich es vor, mit meinem Begleiter den Weg nach Vaux zu Fuß zu machen.“

„War Ihnen auf diesem Wege kein Officier zu Pferde begegnet?“

„Ich glaube, ja, mehrere sogar.“

„Haben Sie einen nicht besonders erkannt?“

„Ich sehe nicht nach den Officiren, mein Herr, am wenigsten nach den Feinden meines Vaterlandes.“

„Wenn man aber den Feinden seines Vaterlandes Dank schuldig ist -“

„Was meinen Sie damit, mein Herr?“

„Ein Herr, der Ihnen begegnete, hatte Sie bereits früher im Hauptquartier des Generals von *** gesehen, Sie auf der Landstraße wieder erkannt, und es gemeldet. Mit Recht, denn unter diesen Umständen mußte, da Sie nach Nanzig dirigirt worden waren, Ihr Wiedererscheinen in dieser Gegend, in dieser Begleitung doch sehr verdächtig vorkommen –“

„Mein Herr, kein Wort weiter – das ist eine Beleidigung.“

Es war ein zorniger, jäher Ausruf der Dame; dann war sie plötzlich still und fuhr nach einigen Secunden mit gedämpfter, schmerzbewegter Stimme fort:

„Verzeihen Sie meine augenblickliche Aufwallung. Ich habe einen Augenblick vergessen, daß Sie nur Ihre Pflicht erfüllen und als Frau eines Officiers weiß ich, was das heißen will. Ich kann mich immer noch nicht genug in mein Elend finden, das mich dulden und leiden heißt. Es kommt immer noch ein Ton herüber aus den Zeiten des Glückes und des Glanzes. Verzeihen Sie mir darum! Allerdings, jetzt sehe ich ein, die Verwickelungen, in die mich mein Schicksal bringt, sind solcher Art, daß sie jedem Andern unmöglich, zum wenigsten zweifelhaft erscheinen müssen; mir selbst kommt das Schwerste und das Wunderbarste als etwas Alltägliches vor, und ich bin sicher und gewärtig, daß es mich nicht verschonen wird. Aber ich wollte Ihnen doch erzählen, wie ich nach Vaux kam. Vom Hauptquartier war ich nach Nancy dirigirt worden, dort jedoch konnte ich keine Unterkunft finden, weder in einem Hôtel noch in einem Privathause; alle disponibeln Räume waren mit Einquartierung belegt. In meiner Rathlosigkeit wandte ich mich an den deutschen Präfecten, Herrn von B., ihm schilderte ich meine Noth, meine Verlegenheit; er rieth mir in einem Kloster bei den Nonnen von Sacré Coeur eine Zuflucht zu suchen. Das that ich auch; die Nonnen gaben mir Nachtquartier und am andern Morgen rieth mir die Oberin, der ich mich anvertraut hatte, nach Vaux zu ihrem Bruder zu gehen, der sei dort Geistlicher, habe eine Mutter und eine Schwester bei sich; der würde mich gern aufnehmen; dort sei ich auch in der Nähe der Vorposten und dort würden sich sicher auch Mittel und Wege finden, mich durch die preußischen Vorposten hindurchzubringen. O mein Herr, was brauchte ich mehr, als diesen Fingerzeig, diesen schwachen Hoffnungsschimmer, um mich sogleich auf den Weg zu machen! Als Begleiter gab man mir einen sechszehnjährigen Schüler aus einem Seminar in Nancy mit, der begleitete mich nach dem Dorfe. Die Schwester von Sacré Coeur hatte nicht unrichtig vorausgesagt; in dem Pfarrhause von Vaux fand ich die liebreichste Aufnahme, in dem Priester einen geistlichen Tröster, einen väterlichen Freund, in seiner Familie Hülfe, Antheil und Freundschaft. – Ich hätte dort so glücklich sein können, wenn nicht der eine Gedanke mich bewegte, nicht Tag und Nacht mich beschäftigt hätte, wie ich die Wachsamkeit der Preußen täuschen könne, um hindurch – hinüber zu meinem Volke, zu meinem Gatten zu gelangen. – Anstatt näher der Erfüllung meiner sehnsüchtigsten Hoffnung, bin ich Ihnen gegenüber jetzt derselben ferner als jemals. Die Kraft meiner Seele ist jetzt gebrochen – ich will nun nichts mehr versuchen, nur noch einen Wunsch, ein Sehnen, ein Gebet erfüllt mein Herz – für mein Kind, für meinen Gatten. Aber ich will Alles in die Hände Gottes legen, der wird wohl Erbarmen mit mir haben.“

Man war einigermaßen in Verlegenheit, was man mit der armen Frau anfangen sollte. So auffallend ihre Wanderung nach Vaux erschien, so einfach war sie durch ihre Angaben motivirt. Im Uebrigen hatte sie so gar nichts Abenteuerliches an sich; trugen ihr Ton, ihre Geberden so ganz das Gepräge einer anständigen Frau, daß das Auffallende, Verdachterregende nur der verzweifelten Situation zuzuschreiben war, in der sich die Unglückliche befand. Das war auch das Urtheil Derjenigen, die nach ihrer Stellung mit ihr zu verkehren hatten, und dieses Urtheil wurde bestätigt durch die Antwort auf die Erkundigungen, welche man in Nancy und in Vaux über sie eingezogen hatte und die von ihren Aussagen in Nichts abwichen. Was aber sollte mit der Stättelosen geschehen? Sie nach Vaux zurückzuschicken war nicht rathsam; denn über kurz oder lang würde sie doch einen Versuch gemacht haben, durch die Vorposten zu dringen, und dann hätte sich dieselbe Geschichte wiederholt.

Madame T. F. de C. hatte keine Eltern mehr, auch keine Blutsverwandten, nur in Lille lebte ein Onkel ihres Namens, und auf den Rath und die Vorstellungen der militärischen Behörde willigte sie ein, sich zu diesem zu begeben. Vorläufig hatte man sie bei der Frau eines der angesehensten Männer in Corny untergebracht. Oberst Kurt erhielt den Auftrag, sie nach Courcelles zu bringen, von da sollte sie nach Saarbrücken dirigirt werden und von dort durch Belgien Lille, das Ziel ihrer Reise, zu erreichen suchen. Als der Wagen auf der Höhe von Corny anlangte, von wo man einen Ueberblick über die Stadt und Festung Metz hat, brach sie in ein fast krampfhaftes Schluchzen aus. Da drüben in einer der Straßen der stattlichen Stadt lag ein Haus, in einem Zimmer desselben ihr Gatte mit brennenden Wunden, hülflos vielleicht und allein dem Tode entgegengehend, und sie muß hier Abschied nehmen von ihm, vielleicht auf ewig. Da nahte sich eine preußische Patrouille, die einen französischen Soldaten brachte. Oberst Kurt ließ halten und erkundigte sich bei derselben wo und auf welche Weise derselbe zum Gefangenen gemacht worden war; dann wandte er sich mit Fragen an den französischen Soldaten selbst.

„Sie sind Artillerist?“

„Ja, mein Colonel.“

„Von welchem Corps?“

„Von dem Gardecorps.“

„Kennen Sie Officiere von demselben?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 780. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_780.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)