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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

und einen von ihnen hörte ich „Commodore“ nennen. Die Flüchtlinge, so konnte man sie wohl nennen, hatten bereits einen weiten Weg gemacht und hofften noch in derselben Nacht mit nach Versailles zu reisen, welches indessen noch drei Meilen entfernt war. Ihre Pferde waren erschöpft, und ich verschaffte ihnen Wasser und Heu durch die Soldaten, denen ich erklärte, daß sie es nicht mit Franzosen, sondern mit Amerikanern zu thun hätten. Diese letzteren waren etwas ungeduldig, allein der commandirende General war auf ihre Ankunft gänzlich unvorbereitet und die Papiere mußten natürlich erst untersucht werden. Es wurde der Befehl gegeben, Niemanden an die Wagen zu lassen, und ich konnte den Amerikanern weiter nicht behülflich sein. Es kam jedoch bald ein Oberst, welcher englisch sprach, und es wurde befohlen, daß die Fremden die Nacht in Villeneuve le Roi blieben, wo für sie in den Häusern höherer Offiziere Quartier gemacht wurde.

Ludwig Freiherr von der Tann.


Am andern Morgen fuhren sie unter Bedeckung und im schauderhaftesten Wetter nach Versailles, wo sie viele Stunden früher ankamen als wir, die wir nur in Schritt fahren konnten. Diese drei Meilen waren ganz außerordentlich abscheulich, denn es wehte ein Sturm, begleitet von einem Regen, der eiskalt war und in’s Gesicht wie Nadeln stach. Auf dem ganzen Wege sah man keinen einzigen Einwohner, nur deutsche Soldaten. Die Häuser waren leer; die meisten waren verschlossen, allein viele waren erbrochen und die Möbeln darin zerschlagen. Diese Verwüstungen waren großenteils durch die Gardes mobiles angerichtet worden, welche die Möbeln zerstörten, damit sie den Preußen nicht nützen sollten. Ueberall dieselbe Thorheit, überall die bis in die kleinsten Details erkennbare Unüberlegtheit und sinnlose Thätigkeit. Die schönen Bäume an den breiten Landstraßen waren niedergehauen. Zu welchem Zwecke, war nicht wohl einzusehen; Wälder hätte man fällen müssen, um Verhaue zu bilden, welche solche breite Straßen mit Erfolg sperrten; und um all die Straßen zu sperren, würden kaum alle Wälder um Paris hingereicht haben. Hin und wieder hatte man kindische Versuche gemacht, die Straßen auf Strecken unfahrbar zu machen, eine mühsame Arbeit, die zu dem Erfolge in gar keinem Verhältnisse stand, denn das kleine Hinderniß wurde durch die deutschen Pionniere bald überwunden.

Schon bei einer früheren Gelegenheit habe ich erwähnt, welche abgeschmackte Befürchtungen man in Bezug auf die Deutschen hatte, und erzählt, daß Mütter ihre Knaben nach Metz sandten, damit sie nicht von den Preußen mitgenommen würden. Die Moral der deutschen Soldaten schätzte man nach Erfahrungen, die man an französischen gemacht hatte. Man sah fast nichts als alte Weiber. Meine Portiersfrau hier in Verfailles mußte ihrem Schwiegersohn aushelfen, welcher einige Mann Einquartierung erhalten hatte. Auf seine Frage, wo dessen Frau sei, antwortete sie: „Meine Tochter ist sehr schön; und wir haben sie fortgeschickt, damit ihr nicht Gewalt angethan würde!“

Unsere guten bescheidenen Jungen sehen gerade danach aus! Sie sind hier in größerer Gefahr als die Weiber. Ich habe manche komische Scene mit angesehen. Eine hübsche Wirthin und noch hübschere Kellnerin in einem Wirthshause küßten ein paar tischende junge Husaren fast mit Gewalt im Wirthszimmer. Sennerinnen sind ganz entzückt über die schönen blonden Deutschen, und selbst elilugirte Preußenfeinde müssen zugeben, daß sich unsere Truppen ganz musterhaft benehmen. Wo irgend ein Fall vom Gegentheil erzählt wurde, habe ich stets eine französische Lüge gefunden oder eine französische Unverschämtheit, welche derbes Auftreten nicht nur rechtfertigte, sondern zur Pflicht machte.

Durch und durch naß und halb erstarrt trabte ich mit einem Commissionair durch das weitläufige Versailles; überall wurde ich in den Gasthöfen abgewiesen. Endlich entdeckte ich einen einsamen Miethszettel. Ich stürzte in’s Haus und fand, freilich im vierten Stock ein prächtiges Logis, bestehend aus Wohnzimmer, Speisezimmer und Küche, vollständig mit Allem versehen, was ein junges Ehepaar für die Flitterwoche bedarf; für den mäßigen Preis voll zwanzig Franken die Woche. Hier will ich die Uebergabe von Paris abwarten; von hier will ich meine militärischen Excursionen machen, wozu ich bereits die nöthige Erlaubniß vom Generalquartiermeister der Armee erhalten habe. Seit ich hier bin, habe ich noch keinen Kanonenschuß gehört; ich glaube, die Pariser hungern und überlegen; doch zweifle ich nicht daran, daß ich Stoff genug haben werde, in meinem nächsten Briefe die Blutneugier schlachtenhungriger Leser Ihres Blattes zu befriedigen.

Ich muß annehmen, daß Versailles und seine Geschichte bekannt ist, denn wenn ich auch gar nicht abgeneigt bin, hin und wieder „Belehrendes“ in meine Briefe einzuflechten, so muß sich das doch wohl nur auf solche Dinge beschränken, von denen man nicht unbedingt voraussetzen kann, daß sie jedem Gebildeten bekannt sind.

Im gegenwärtigen Augenblick macht die schöne Stadt keinen besonders freundlichen Eindruck: die reicheren Einwohner haben sie meistens verlassen und die Straßen sind ziemlich todt. Sie werden hauptsächlich von Soldaten belebt, welche entweder hier einquartiert sind, oder von benachbarten Orten und Bivouacs hereinkommen. Die lebhafteste Straße ist noch die Rue de la Paroisse in der ich wohne. Die Läden sind überall offen und ihre Besitzer machen recht gute Geschäfte mit den Soldaten; allein leider fangen manche Waaren an zu fehlen und unsere deutschen Kaufleute sind zu zaghaft und langweilig, den Markt zu versorgen. Einige schwache Versuche sind gemacht worden; allein es fehlten der amerikanische praktische Sinn und Rührigkeit. Brennöl ist in der ganzen Stadt nicht zu haben und Kerzen werden auch bald erschöpft sein, da sie von Marketendern centnerweise gekauft werden. An Salz ist auch Mangel, ebenso an Schwefelhölzchen und eine Citrone ist nicht aufzutreiben. Fische und Austern giebt es natürlich gar nicht, doch ist der Markt überflüssig mit Gemüse, köstlichem Obst, Butter, Eiern, Geflügel und Fleisch versehen. Die Preise sind freilich hoch, besonders in einzelnen Artikeln. Gute Tischbutter kostet über einen Thaler das Pfund; das Pfund Zucker vierundzwanzig Groschen bis einen Thaler.

Die Einwohner der von den Deutschen besetzten Orten dürfen frei hin- und herpassiren ohne daß ihnen irgend welche Schwierigkeiten in den Weg gelegt werden oder sie zu fürchten brauchen, daß man ihre Fuhrwerke oder Pferde requirirt. Ueberhaupt existiren hier keine kleinlichen Bestimmungen in Bezug auf Schließung der Wirtshäuser oder Ausgehen am Abend etc. Nur ist Befehl gegeben, daß, wenn die Truppen alarmirt werden, alle Einwohner zu Hause bleiben müssen, und ist ihnen angekündigt worden, daß die Soldaten Befehl haben auf jeden zu schießen, der sich zeigt. Vernünftige Versailler sind mit all’ den Einrichtungen außerordentlich zufrieden und betrachte es als ein großes Glück, daß König Wilhelm hier sein Hauptquartier aufgeschlagen hat.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 789. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_789.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)