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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Baßstimme besaß. Er hatte bisher das Schneiderhandwerk betrieben; aber als ihm die Geschwister, die eben zurückgekommen von dem herrlichen Leben in der großen Welt erzählt, da schien es ihm auch angenehmer und rühmlicher, im schönen Alpencostüme auf decorirter Bühne zu stehen und der erstaunten Menschheit liebliche Lieder vorzusingen, als zeitlebens bucklig auf der Schneiderbude zu sitzen und eine Nadel nach der andern einzufädeln.

Auf dieser zweiten Reise kamen die Zillerthaler Sänger zum ersten Male nach England, wo sie an dem österreichischen Gesandten, Fürsten Esterhazy, einen mächtigen Gönner fanden. Georg der Vierte, sonst eben kein liebenswürdiger Patron, kehrte doch gegen die Tiroler seine angenehmsten Seiten heraus, beherbergte sie längere Zeit zu Windsor, ließ ihnen ihre ganze Tracht von Kopf zu Fuß vom feinsten Tuch und Seidenzeug neu machen, auch goldene Knöpfe mit dem großbritannischen Wappen daraufsetzen und schenkte ihnen neue Gürtel oder „Ranzen“, auf welchen silberne Schilde mit demselben Wappen. So wurden sie fashionable, fanden allenthalben in dem vereinigten Königreiche die freundlichste Aufnahme und ersangen sich ganz ungeahnte Summen.

Und eines Tages wurde dem alten Joseph Rainer zu Fügen ein Schreiben seiner Kinder überreicht, welches ihm kundgab, wie glücklich es ihnen bis dahin gegangen, und ihn einlud, „zu einem fröhlichen und feierlichen Wiedersehen“ nach Frankfurt am Main zu kommen. Dahin solle er auch die Mädchen bringen, mit denen sich die Brüder vor ihrer Abreise versprochen hatten, und Marie gab den Auftrag, dem Cassian Wildauer, Hausknecht beim Eigner Wirth in Fügen, freundlichst zu vermelden, daß sie ihn, da sie doch auf ihre erste Liebe verzichten müsse, zu ihrem Gemahl erkoren habe, wenn er damit einverstanden sei.

Dieser Cassian oder Cassel und sein Zwillingsbruder Anton galten übrigens zu derselben Zeit in der ganzen Gegend als große Meister und Helden im Raufen, „was damals im Zillerthale das schönste Geschäft war.“ Sie standen in gleichem Alter mit den jungen Rainern und wuchsen nachbarlich mit diesen auf. Vater Cassel erzählte später noch oft, daß sie in früheren Jahren viele Hundert Male mit einander gerauft hätten; nichtsdestoweniger waren die Zwillinge und die jungen Rainer in der Hauptsache immer die besten Freunde, und darum wurde auch die bevorstehende Heirath der Schwester mit dem Cassel von den Eltern und den Brüdern nicht ungern gesehen.

Das Präfecturgebäude in Versailles, augenblicklich Residenz des Königs von Preußen.

Nach wenigen Wochen hielten nun die sämmtlichen Geschwister, die also wieder hereingekommen, fröhliche Hochzeit zu Fügen in dem Dorfe. Die vier Jungen hatten sich sehr hübsche und, was noch besser, sehr brave Mädchen auserwählt. Vermögen hatte jedoch nur Eine, nämlich Bruder Anton’s Braut, welcher ihr Vater am Hochzeitstage eine ziemliche Mitgift auf den Tisch legte.

Etwa acht Tage vorher waren übrigens Marie Rainer mit ihrem Bräutigam in Zell erschienen, um ihr Söhnlein zur Hochzeit einzuladen und ihm seinen künftigen Vater vorzustellen. Sie brachte ihm viele hübsche Sachen mit und bezeigte ihm große Zufriedenheit, weil er in der Schule so brav gelernt hatte.

Bald darauf trat die Sängergesellschaft ihren dritten, in dieser Zusammensetzung letzten Wallgang an. Sie verbrachte die meiste Zeit abermals in England und blieb im Ganzen drei Jahre aus. Währenddessen ging Ludwig Rainer mit Ehren durch die Zeller Dorfschule. Er stand sich vortrefflich mit seinem Lehrer, der zu ihm und seiner Pflegemutter gar gerne in den Heimgarten kam, und von dieser und ihren beiden ledigen Schwestern welche bei ihr wohnten, immer freundlich aufgenommen und bewirthet wurde. Er erzählte dann den drei Frauenzimmern, die in Liebe zu ihrem Zögling wetteiferten, wie fleißig dieser lerne, ja er malte ihnen das Bild oft schöner aus, als es wirklich war. Deshalb ging er auch nie weg, ohne etwas im Kopfe oder in der Tasche davonzutragen und kam darum nur immer lieber wieder.

In diesen Tagen geschah es auch, daß die Großeltern zu Fügen ihre Fleischhackerei dem ältesten Sohne Johann übergaben, welcher dann sofort eine Wirthstochter aus dem nahen Hard zum Weibe nahm. So war die schöne Lene allein noch übrig. „Sie konnte sich aber keinen Edelmann erwarten“ und mußte sich zuletzt mit einem Fabrikarbeiter, der ein kleines Häuschen besaß, zufrieden geben.

Der Stiefvater, der überhaupt als etwas rauh und kalt geschildert wird, scheint sich übrigens um den jungen Ludwig sehr wenig gekümmert zu haben. Nur einmal während der dreijährigen Abwesenheit der Mutter kam er ihn zu besuchen nach Zell und machte ihm eine Tabakspfeife zum Präsent, die Mutter aber nahm ihm später das Geschenk wieder ab, da sie nicht haben wollte, daß ein so kleiner Spreizer schon rauchen solle.

Nach drei Jahren also kamen die Geschwister Rainer wieder nach Hause, legten ihren Wanderstab nieder, kauften sich schöne Anwesen und fingen ein häusliches Leben an. Frau Marie Wildauer fuhr dann auch wieder mit ihrem Gatten nach Zell, um den kleinen jetzt zehnjährigen Ludwig abzuholen, der sich von der Färberin und ihren Schwestern, die er unendlich liebgewonnen, nur schluchzend und jammernd trennte. Diese seine Zieheltern hatten sein Herz dermaßen eingenommen, daß er sich in unbefriedigter Sehnsucht lange abhärmte und im Vaterhause nur langsam eingewöhnte.

(Fortsetzung folgt.)


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 801. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_801.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)