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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

zu heben: sie fördern einen Korb Wein zu Tage, dessen Heimath das vor uns liegende Neuilly ist; dort haben nämlich die deutschen und französischen Patrouillen ihren häufigsten Tummelplatz, sie machen sich wie Weinreisende unverschämte Concurrenz, denn Keiner gönnt dem Andern die guten Tröpfchen, welche dort noch immer zu finden sind. Von letzterer Wahrheit bin ich damals selbst auf das Freundlichste überzeugt worden. Eben hatte gerade im letzten Hause von Neuilly eine Patrouille ein neues Weinlager entdeckt und einen großen Vorrath zur Stärkung der Feldwache mitgebracht. Einige dieser Rothhälse wurden mir auf meinen Nachhauseweg mitgegeben, und es freut mich, für diese stille Wohlthat hier öffentlich meinen Dank aussprechen zu können.

Auf einer schönen Pappelallee schwenkte ich nun von der Barrikade rechts ab nach Maison-blanche, und dort mußte ich gerade dazu kommen, als man einen Transport von drei gefangenen französischen Civilärzten mit vollständig ausgerüstetem Medicinwagen herbeiführte. Nach ihrer Aussage hatten sie einige verwundete Franzosen abholen wollen, waren dabei auf eine Abtheilung unserer Feldwache gestoßen; nach kurzem Gefecht mit ihrer Bedeckung gefangen genommen und wurden nun zu weiterer Verfügung über sie nach Chelles gebracht. – Ihr eleganter vierräderiger Wagen trug die Aufschrift: „18ème Arrondissement. Ambulance de la rue Doudeauville 115.“ – Während dieses Vorgangs war der Kanonendonner von den Forts wieder sehr heftig, für uns aber ohne Wirkung.

Der Abend brach herein, als ich bei Pressoir am Beobachtungsposten vorüberkam. Selten habe ich bezauberndere Farbenpracht gesehen, als wie sie hier die untergehende Sonne auf die Fluren Weinberge und Laubwälber legte. Dazu die tiefe Einsamkeit, nur Kaninchen und Eulen machten sich, als endlich die Finsterniß völlig herabgesunken war, hier und da bemerklich, von einer Menschenseele keine Spur, bis am Schloß von Montfermeil der Posten mich anrief. Ich streckte mich auf mein Lager mit dem Bewußtsein eines gut vollbrachten Tags. Um aber keinerlei Friedensträume aufkommen zu lassen, übte schon um halb Zwei der Krieg wieder sein Recht aus: die Compagnie mußte sofort sich zum Ausrücken bereit halten. Da heißt es: rasch sein. Als richtiger Soldat erst Feuer anmachen, dann Wasser zusetzen – und Punkt zwei Uhr tranken wir beim Talglicht unsern Kaffee. Alles gepackt und marschfertig standen wir da – aber der weitere Befehl blieb aus, und ebenso fertig im Niederlegen wie im Aufstehen erfreute sich schon um drei Uhr die ganze Compagnie wieder des schönsten Schlafs. Leben Sie wohl!




Schulkindkrankheiten oder Schulkrankheiten?
Ohne phosphorhaltiges Gehirn kein Verstand, kein Gemüth, kein Wille, also keine geistige Thätigkeit.
Strafpredigt für Eltern, Lehrer und Schulvorsteher.
V. Schiefwerden des Schulkindes.

Das Schiefsein, die seitliche Rückgratsverkrümmung (Scoliose), hat in der Neuzeit auf eine schreckenerregende Weise an Häufigkeit zugenommen und Heilungen dieses Leidens kommen so gut wie gar nicht vor. Verhütung desselben ist also die Hauptaufgabe für Eltern und Erzieher. – Am häufigsten wird diese Rückgratverkrümmung beim Schulkinde, zumal bei Mädchen mit blasser Haut und schlaffem Fleische, angetroffen, und in den allermeisten Fällen ist sie die Folge schlechter Angewöhnung, nämlich längerer falscher Haltung des Körpers in einer und derselben Schiefstellung, besonders beim Arbeiten (Schreiben) im Sitzen. Nicht ganz mit Unrecht wird der Schule, und zwar den unzweckmäßigen Bänken und Tafeln (Subsellien), Schuld an diesem Schulkindleiden gegeben. Allein es trägt die Schule durchaus nicht die alleinige und hauptsächlichste Schuld daran, weit mehr verschuldet noch das elterliche Haus, wo man auf die Haltung und Sitzweise des (zumal arbeitenden) Kindes meistens gar nicht achtet, und wo schon von erster Jugend an eine Menge schädlicher Einflüsse auf das Rückgrat einwirken. Daß dem aber so ist, dafür spricht die Thatsache, daß sehr viele Kinder zu der Zeit, wo sie in die Schule aufgenommen werden, schon mehr ober weniger ein verkrümmtes Rückgrat haben, was aber von den Eltern gewöhnlich übersehen und erst dann bemerkt wird, wenn die Verkrümmung während und durch den Schulbesuch ganz auffallend und nun nicht mehr heilbar geworden ist.

Würden die Schulkinder bei ihrer Aufnahme in die Schule von ärztlichen Schulinspectoren einer genauen Untersuchung in Bezug auf Gesundheit unterworfen, so dürften, außer Rückgratsverkrümmungen, sicherlich noch manche andere Uebel entdeckt werden, welche zur richtige Behandlung des Schulkindes dem Lehrer zu wissen frommt. Aber den meisten Schul- und Turnlehrern darf man so nicht etwa mit dem Wunsche kommen, daß sie doch mehr auf das körperliche Wohl ihrer Schüler achten möchten, als dies zur Zeit geschieht; wenn man nicht hören will, daß der Turnplatz keine orthopädische Anstalt und die Schule keine Heilanstalt sei. Verfasser kennt Schuldirectoren, die vom menschlichen Körper und seiner Pflege auch nicht die geringste Kenntniß haben und trotzdem eine Gesundheitscontrolle über ihre Schüler von Seiten Sachverständiger (d. h. ärztlicher Schulinspectoren) barsch zurückweisen. Solche Directoren möchten eben auch unfehlbare Päpste sein. Ueberhaupt tragen die Directoren und Lehrer der Schule unmittelbar und mittelbar die Hauptschuld an den überaus schlechten Gesundheitsverhältnissen der jetzigen Menschheit, und zwar deshalb, weil sie einestheils viel zu wenig das körperliche Wohl der Schüler in der Schule im Auge haben, und anderntheils, weil sie ihren Schülern nicht die gehörige Anleitung zur Wahrung ihrer und ihrer Angehörigen Gesundheit geben. Die allermeisten Lehrer wissen freilich selbst nichts vom menschllchen Körper und seiner Pflege.

Um ein richtiges Verständniß über die Rückgratsverkrümmung zu bekommen und dem Entstehen derselben entgegentreten zu können, möge man folgende anatomische Vorbemerkungen nicht unbeachtet lassen. – Die Wirbelsäule oder das Rückgrat ist die Grundveste unseres Körpers, die einzige Stütze des Kopfes und ein Stativ, an welchem der Brustkasten mit den Armen und das Becken mit den Beinen befestigt ist. Sie stellt einen vielgegliederten und schlangenförmig gekrümmten Knochenschaft dar, welcher in seinem Innern einen Canal für das Rückenmark enthält und von oben nach unten allmählich in seiner Dicke zunimmt. Diese am Rücken durchfühlbare Knochensäule ist trotz ihrer Festigkeit doch sehr beweglich, denn sie kann gebogen, gestreckt, zu den Seiten geneigt und um ihre Achse gedreht werden. Dies kommt aber dadurch zu Stande, daß sie aus sechsundzwanzig Knochen – vierundzwanzig Wirbeln, dem Kreuz- und Steißbeine – aufgebaut ist, welche, obschon die einzelnen Knochen ziemlich straff durch Knorpel und Bänder (knorpelige Wirbelbandscheiben) miteinander verbunden sind, viele übereinander liegende Gelenke bilden, und daß durch diese, sowie durch die Elasticität der Bandscheiben, eine große Beweglichkeit der ganzen Säule ermöglicht ist. – Man pflegt an der Wirbelsäule von oben nach unten vier Abtheilungen zu bezeichnen, nämlich: einen Hals-, einen Brust-, einen Lenden- und einen Beckentheil. Der Halstheil wird von den sieben Halswirbeln gebildet und hat eine nach vorn convexe Krümmung, die hauptsächlich durch die keilförmige Gestalt der die Wirbelkörper verbindenden Faserringe (der sogenannten Zwischenwirbelknorpel, welche vorn höher als hinten sind) bedingt wird. Der Brusttheil, dem an jeder Seite zwölf Rippen anhängen, ist von den zwölf Brustwirbeln aufgebaut und in der Art gekrümmt; daß er eine nach vorn concave Bogenlinie beschreibt. Diese Krümmung rührt von der ungleichen Höhe der Wirbelkörper her, welche vorn niedriger als hinten sind. Der Lendentheil wird von den fünf sehr starken Lenden- oder Bauchwirbeln gebildet und hat eine nach vorn convexe Krümmung. Der Beckentheil besteht aus dem Kreuz- und Steißbeine und ist nach vorn (gegen die Beckenhöhle hin) ausgehöhlt; seitlich vereinigt er sich mit den Beckenknochen so fest, daß er für sich keine Bewegung ausführen kann.

Die Wirbelsäule macht sonach eine doppelt S förmige Wellenkrümmung oder vier halbrunde Krümmungen. Diejenigen Abtheilungen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 819. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_819.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)