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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

aber als ich es nicht mehr thun durfte, da zeigte sich’s bald, daß es ein tiefes inneres Bedürfniß war, Dir meine ganze Seele hinzugeben. Fredy, nun hab’ ich Dir gebeichtet wie dem lieben Gott, nun sag’, ob Du mir vergeben hast ganz und ohne Vorbehalt!“

„Ganz und ohne Vorbehalt!“ jubelte Alfred. „O meine Anna, Du hast Alles getilgt und ausgelöscht, was Du mich je leiden ließest. Vergieb Du mir, daß ich so lange an Dir gezweifelt; es war ein schwereres Unrecht als das Deine. Komm, setze Dich zu mir auf die alte Bank, wo wir so oft als Kinder geruht. Du trautes Lieb hast Dich so nach mir gesehnt und ich habe es nicht geahnt — hast mich gerufen mit der Stimme Deines Herzens und ich habe es nicht gehört! Sag’ mir, was soll ich thun, um nachzuholen, was ich versäumt?“ Er hatte sich gesetzt und sie sachte auf seine Kniee gezogen; sie legte demüthig den Kopf auf seine Schulter.

„Sei ruhig,“ tröstete sie, „wir haben nichts versäumt, denn die schwere Zeit war meine Schule; sie hat mich gelehrt, mein Glück zu verdienen! Und es ist ja doch Alles, wie es war; es ist, als wäre kaum ein Tag darüber hingegangen; ich fühle es an nichts, daß ich Dich entbehrte, als an der grenzenlosen Freude, daß Du wieder da bist. Ach Gott, der Fredy ist wieder da!“ jauchzte sie plötzlich laut hinaus, als erführe sie es eben erst. „Ihr Berge, ihr Bäume, du alte Steinbank, hört ihr es denn? Der Fredy, der Fredy ist wieder da!“ Sie war aufgesprungen und hatte die Arme ausgebreitet, als wolle sie Allem, was um sie lebte und webte, mit vollen Händen von ihrem Glücke mittheilen. „Sie hören es nicht und verstehen es nicht, die dummen Bäume. Ach, was werden die Eltern sagen und Frank und seine Frau! Ach, und wie würde sich der alte Phylax freuen, wenn er noch lebte!“

„Der alte Phylax, ist er todt?“

„Ja, er starb am Heimweh nach Dir! O, er verstand jedes Wort. Wenn ich sagte: ‚Phylax, wo ist der Alfred?‘ dann winselte er so kläglich. Es that mir weh für ihn, und doch konnte ich es nicht lassen, ich mußte immer wieder Deinen Namen nennen, und der Phylax war der Einzige, mit dem ich von Dir reden konnte. Vor den Eltern schämte ich mich; ich wollte nicht, daß sie es merkten. Aber der Phylax, der war mein Vertrauter und war’ doch noch ein Vermächtniß von Dir!“ Eine Thräne schimmerte ihr im Auge.

Alfred bog ihren schönen Kopf zu sich herab und küßte sie ihr weg. „Du bist doch noch Kind geblieben, wie herrlich Du Dich auch zum Weibe entfaltet hast. Wie? käme ich am Ende mit meinem alten Rückert doch noch zu Ehren? Weißt Du noch unser Gespräch am Ufer, als wir die Binsen pflückten?“

Anna nickte. „Wo ich nicht mehr Mutter und Kind spielen wollte, weil ich mir so viel darauf einbildete, erwachsen zu sein! Ob ich’s weiß! Wie oft hab’ ich später an das hübsche Lied gedacht: ‚Ich und meine Liebste sind im Streite, ob mein Kind sie sei, ob ich das ihre!‘ Wie oft hab’ ich mich mit geschlossenen Augen in Deine Arme geträumt und mir eingebildet, Du wiegtest mich in Schlaf, und das war so süß! – Ja, ich habe sie wohl gelernt, diese Demuth der Liebe, die sich dem Ändern so willenlos auf Treu und Glauben zu eigen giebt, sich so ihrer Kraft, ihres Rechts, ihres Selbstbewußtseins entäußert, daß er mit ihr schalten und walten kann, wie mit einem Kinde!“

„Engel!“ rief Alfred hingerissen. „Wir haben die Rollen vertauscht, Du bist die Lehrende, ich der Lernende, ich höre Dir zu, und immer neue Seligkeit strömt von Deinen Lippen über mich aus!“

„Weißt Du noch, Du wurdest damals so böse, als ich Dir sagte, ich sei zu groß für Dich! Jetzt will ich mich klein machen, ganz klein,“ plauderte sie weiter. „Ich wollte, ich wäre so klein, daß Du mich in Deine Brusttasche verstecken könntest und immer mit Dir herumtragen!“ Und sie kauerte sich zu seinen Füßen nieder und schaute mit einem unbeschreiblichen Blick zu ihm auf. „Sieh, nun bin ich Dein Kind — nun schalte und walte mit mir, Du liebes schönes Väterchen!“

„O süßer Scherz!“ rief Alfred, und seine Augen füllten sich mit Thränen. „Anna, fühlst Du, welch heiliger Ernst in Deinem Scherze liegt?“

„Ob ich’s fühle!“ flüsterte sie voll holder Innigkeit, und sie hielten sich lange schweigend umschlungen. Zu ihren Füßen murmelte leise der See und versöhnte Geister der Vergangenheit, Engel der Zukunft schwebten segnend um sie her.

„Weißt Du noch, Fredy, wie wir immer miteinander kämpften als Kinder?“ sagte Anna, das erglühende Antlitz emporhebend. „Damals bezwang ich Dich – jetzt hast Du mich bezwungen und all meinen Trotz und Eigensinn, daß ich Dir gehorchen muß für’s ganze Leben und keinen ändern Willen mehr habe, als Dir zu dienen!“

„Willst Du das, Anna?“ rief Alfred. „Willst Du mir ein treues hingebendes Weib sein und Dich mir fügen mit dem vollen Vertrauen, daß dieser Arm, wenn er auch nicht so stark ist, wie der anderer Männer, Dich doch gegen alle Stürme beschützen wird?“

„Ja, Fredy, das will ich, so wahr Gott mir helfe! O, Du bist mir viel zu gesund und stark geworden, Fredy, ich wollte, Du wärst wieder so hinfällig wie damals, damit Du meiner mehr bedürftest und ich Dich mehr pflegen müßte!“

„Dann würdest Du mich aber vielleicht nicht mehr so lieb haben!“ lächelte Alfred.

„O nein!“ rief Anna, „und wenn Du ein Krüppel wärst, Du bliebst doch, was Du bist, wie Raphael ein großer Maler gewesen, wäre er auch ohne Hände geboren! Wenn Victor seine Gesundheit verlöre, dann wäre er ein armes schwaches Geschöpf, höchstens ein Gegenstand des Mitleids, denn er ist nur ein Held durch die Kraft seiner Muskeln – die nicht sein eigen ist – die ihm ein Zufall rauben kann, – Du aber bist ein Held geworden der Natur und den Verhältnissen zum Trotz aus eigener Kraft, diesen höchsten Ruhm kann Nichts Dir nehmen!“

„Anna, große Seele,“ rief Alfred, „mir ist, ich hörte Feldheim’s prophetische Stimme. Er hat es mir geweissagt, da ich noch Knabe war, was Du soeben aussprichst. Ja, er hatte Recht: daß ich, der Krüppel, mir diesen Ruhm erringen konnte, daß ich Dich, Du göttliches Weib, an meinen Busen drücken darf und in Deinen Augen den Strahl der Liebe und Achtung leuchten sehe, der nur Helden lohnt, ich danke es mit gerührtem Herzen dem Fortschritt unseres denkenden Jahrhunderts! So seid getrost, Ihr Alle, die wie ich geschmachtet hinter den Schranken, welche eine stiefmütterliche Laune der Natur oder das Vorurtheil der Menschen Euch gesteckt: die Arena des Geistes ist aufgethan, Jeder ist zum Kampfe zugelassen und Jeder kann siegen aus eigener Kraft!“




Ein Thüringer Kaufmann.
Zur Jubiläumsfeier eines deutschen Instituts.

In den Nummern eins, acht und zehn des Jahrgangs 1865 der „Gartenlaube“ haben Sie unter der Überschrift „Das Werk eines deutschen Bürgers“ über die Gründung und den Geschäftsbetrieb der ersten und größten deutschen Lebensversicherungsanstalt, der Lebensversicherungsbank in Gotha, interessante Mittheilungen aus der Feder Ludwig Walesrode’s gebracht, die gewiß manchem Ihrer Leser noch in Erinnerung sein werden. Jenes „Werk“ hat indessen seine Arbeit, sein Geschäft mit dem Tode, still und geräuschlos, wie es sich einem solchen Geschäftsfreunde gegenüber geziemt, aber in immer wachsendem Umfange fortgesetzt, hat an Wittwen und Waisen Millionen ausbezahlt und hat Millionen zu Millionen gehäuft, die in Zukunft demselben Zwecke dienen sollen. Denn, wie Walesrode sagte, der Tod ist der treueste Kunde der Bank, täglich findet er sich in ihren Bureaux ein und präsentirt fällige Wechsel, die prompt eingelöst werden müssen.

Von jenem deutschen Bürger Ernst Wilhelm Arnoldi rührt noch eine zweite große Schöpfung, die Feuerversicherungsbank für Deutschland in Gotha her, die am Neujahrstage 1871 ihr fünfzigjähriges Bestehen feiert. Wir nehmen dies zum Anlaß, Ihren Lesern heute das gelungene Bild Arnoldi’s vorzuführen, und glauben uns deren Dank zu verdienen, wenn wir dasselbe mit einigen Notizen über den Lebensgang des genialen Mannes, der ein Muster deutschen Fleißes und deutschen Sinnes war, begleiten.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 872. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_872.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)