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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

mich abgehärmt und der Verzweiflung nahe war, in dunkler Nacht einen Bruder sanft schlummernd auf einer Steinbank vor einem Nachbarhause, dem Königssaal.

Aus derselben Quelle leite ich die mir eigene, unwiderstehliche Neigung her, mich in fremde Zustände zu versetzen, für Andere oder mit Andern zu leiden oder zu jubeln und wohl auch mir in ihren Angelegenheiten, wie man sagt, den Kopf, zu zerbrechen. In wie weit diese Gemüthsart als Grundlage meines Charakters gedient und mich vor dem Schicksal bewahrt hat, in jenen Egoismus zu Versinken, der den davon Besessenen weniger elend, als unfähig macht, aus dem engen Kreise seines Ich herauszutreten, dies wird sich im Verlaufe meiner Selbstschilderung zeigen. Wie die Wahl des Berufs in der Regel von der Nothwendigkeit, dem Beispiel oder der Gewohnheit bedingt wird, so geschah es auch bei mir. Bedürfte ich, was ich nicht sagen kann, eines Trostes dafür, daß ich Kaufmann geworden bin, so würde ich ihn in dem Umstande finden, daß ich mich nicht dagegen gesträubt, nicht auf ein Lieblingsfach Verzicht geleistet habe. Mein Vater sprach gerne und oft von der freien Wahl in seiner Wirksamkeit, oder, wie er es nannte, von der Freiheit des Kaufmanns, und daß Redlichkeit und Fleiß bei Ordnungsliebe und Sparsamkeit zum Wohlstand und Ansehen führen können, das konnte mir schon einleuchten, wenn ich unsern Haushalt ansah. Aber ich fühlte auch, daß mein Vater bald einer Stütze bedürfen würde, die nothwendig nur sein ältester Sohn ihm gewähren konnte. Diese Umstände mußten mich über Das, was ich sollte und wollte, bald genug in’s Klare bringen und die guten Seiten des kaufmännischen Berufes mehr und mehr erkennen lassen.

Nach zurückgelegtem sechzehnten Jahre befand ich mich in Hamburg, der größten Handelsstadt Deutschlands. Wenn große Städte überhaupt Schulen sowohl der feinen Sitte, als des Lasters sind, so konnte Hamburg damals als eine der höchsten Schulen dieser Art gelten, jedoch vorzugsweise in Beziehung auf Laster, welche im Gefolge der Ueppigkeit Platz greifen und die Jugend beider Geschlechter deswegen verderben, ja oft ganz zu Grunde richten; denn nur zu leicht läßt sich die Unerfahrenheit von lockenden Außenseiten bestechen und bezaubern, die Sinne aber vermögen am wenigsten in dem Alter, wo die Begierden erwachen, den Versuchungen immer zu widerstehen. Ich muß daher die Fügung als eine für mich sehr glückliche betrachten, daß ich mit einem Handlungsgehülfen einige Zeit auf einer Stube zu wohnen genöthigt war, welcher das Laster von einer so abschreckenden Seite darstellte, daß ich mich davor entsetzen mußte.

Nach kurzem Aufenthalte in einem kleinen Geschäfte kam ich auf das Comptoir des in hoher Achtung stehenden Hauses Johann Gabe u. Comp und befand mich damit wie durch Zauberei mit einem Male auf dem Gipfel des Großhandels der bedeutendsten Handelsstadt des nördlichen Europa, in einem der reichsten und großartigsten Handelshäuser Hamburgs. Herr Gabe, damals dreiundsechszig Jahre alt, war ein sehr schöner, kräftiger, blühender, hoher Mann; seine würdevolle Haltung flößte Achtung ein und diese Achtung wurde erhöht, wenn man, wie ich, Gelegenheit hatte, seine edle Denkart aus seinen Handlungen kennen zu lernen. An der Spitze seines Geschäfts, war er der erste und der letzte auf dem Comptoir, mit der Rüstigkeit eines Jünglings arbeitend, die ganze Correspondenz auf das Correcteste in fünf Sprachen selbst führend.

Mistreß Franziska Gabe hat mir stets einen großen Respect vor der gebildeten englischen Weiblichkeit eingeflößt. Damals erschien sie mir, wie jetzt, als ein Muster weiblicher Würde in ihrer Eigenschaft als Gattin, Mutter, Hausfrau und Christin!

Kurz nach meiner Aufnahme im Gabe’schen Hause machte sich die Anstellung noch eines Comptoirgehülfen nöthig. Zu Aller Verwunderung erhielt diese Stelle ein französischer Ausgewanderter Namens Les Maisons. Ohne zu ahnen, was mir daraus für Vortheile erwachsen würden, nahm er das Pult zu meiner Linken ein und griff seine Arbeit mit einer Kraft an, welche eben darum nicht von Dauer zu sein versprach. Er hatte sich, der deutschen Sprache soweit bemächtigt, um sich verständlich zu machen und mit Hülfe eines Wörterbuches zu lesen. Vergebens bat ich ihn, mit mir in seiner Muttersprache zu reden; er sprach aber nur deutsch, so gut es ging, und während der vier Jahre unseres Umgangs ist es dabei geblieben. Wie in dieser, blieb er sich in jeder Hinsicht treu und löste daher auch seine Aufgabe als zweiter Buchhalter zur Verwunderung des ganzen Comptoirs in kürzerer Zeit, als erwartet werden konnte. In seinem Umgange wurde ich gewahr, wie viel mir wegen meiner mangelhaften Schulbildung abging. Konnte ich das Versäumte nachholen? Der ehrwürdige Professor Büsch kündigte Vorlesungen über Handelwissenschaft und Politik an. Les Maisons nahm mich bei der Hand und führte mich zu Büsch. Als dieser darauf über das Studium der neuen Sprachen Vorträge hielt, war es wieder derselbe Freund, der mich nöthigte, Theil daran zu nehmen. Ohne ihn wäre ich wie tausend Andere davon weggeblieben.

Auch eines Hamburger Freundes, des Buchhändlers Strudel, muß ich gedenken. Das Andenken an ihn erfüllt mich mit Wonne und Wehmuth. Wir waren Freunde wie Orestes und Pylades, ein Herz und eine Seele. Von reinen Sitten und einer edeln Begeisterung für das Gute und Schöne fähig, suchte und fand er in der schönen Literatur eine Nahrung für Geist und Herz, die er redlich mit mir theilte. So hatten wir Stoff zur mündlichen Unterhaltung die Fülle. Dazu kam das lebhafte Interesse, welches wir an den damaligen Welthändeln nahmen und meine Zeitungsliebhaberei, die mich in den Stand setzte, meine Partei nehmen zu können. Was Wunder, daß wir mit solchem Unterhaltungsstoff uns ganze Sonntage von Sonnenauf- bis zu Sonnenuntergang bewegten und ein arkadisches Leben außerhalb des Dunstkreises einer großen Handelsstadt führten, in welcher alle Tugenden mit allen Lastern um den Preis rangen.

Etwa eine Halde Stünde vom Dammthore entfernt befand sich einer von den Bauernhöfen, welche, wie die Oasen in den afrikanischen Wüsten, ein fruchtbares Fleckchen in der Haide einnahmen, der Schäferkamp. Der Weg dahin geht durch tiefen Sand. Ein einfacher Garten umgiebt das ländliche alte Wohnhaus und die Wirthschaftsgebäude, und in einem Baumgange findet sich hier und da eine halbmorsche Lattenbank unter einer schattigen Linde. Da nahmen wir, im Sommer schön vier Uhr Morgens, Platz, tranken meist Milch, selten Kaffee, und lasen in der ersten Zeit dieser Schäferkampbesuche einander aus Geßner’s Idyllen das Vorzüglichste vor, wodurch wir uns in eine Unschuldwelt versetzten, die recht eigentlich den schroffsten Gegensatz mit Hamburg bildete, welches damals in einem Taumel befangen war, der sich kaum beschreiben läßt. Ausnahmsweise lustwandelten wir oder fuhren auf der Alster nach Harvestehude[WS 1] und setzten uns unter Hagedorn’s, des Dichters, Linde, oder besuchten das Eisbüttler Hölzchen etc. Dieser Umgang, dieses Glück der Freundschaft bestand, bis ich nach Gotha zurückkehrte, wohin mein Freund mir folgte, um das Vorhaben eines eigenen Etablissements und die Heimführung der Verlobten auszuführen.

Im Sommer 1799 holte mich mein Vater in Hamburg ab, um mich mit nach Gotha zu nehmen.“ –

Bis zu diesem Zeitpunkte reichen die eigenen Aufzeichnungen Arnoldi’s. Was wir aus ihnen wiedergeben konnten, ist nur ein sehr kleiner Theil derselben und bisher nirgends veröffentlicht. Daß dieselben von der Gartenlaube gebracht werden, gereicht uns in doppelter Hinsicht zur Befriedigung, weil die Neuheit der Sache und der große Leserkreis dieses Blattes gewiß einander werth sind. Der weitere Lebensgang Arnoldi’s, sein vielseitiges Schaffen und Wirken vom Beginn seines Mannesalters an bis zu seinem Tode sind dagegen schon wiederholt und an verschiedenen Orten zum Gegenstände öffentlicher Besprechung gemacht worden, so daß wir uns hier kurz fassen dürfen. Wir erwähnen nur, daß namentlich das Buch berühmter Kaufleute ziemlich ausführliches biographisches Material über Arnoldi enthält.

Einundzwanzig Jahre alt war Arnoldi in das väterliche Geschäft eingetreten; bereits nach vier Jahren wurde er dessen Theilhaber; wiederum nach drei Jahren, 1806, mit seinem Bruder Johann Friedrich Geschäftsinhaber.

Die Zeitverhältnisse waren bekanntlich die ungünstigsten. Die französische Invasion hatte begonnen, und im genannten Jahre wurde nicht sehr fern von Gotha die Schlacht von Jena geschlagen. Sein Naturell zwang ihn, unablässig bemüht zu sein, um zur Linderung der Wunden und Schäden beizutragen, die dem Gemeinwohl der lang andauernde Krieg schlug. In dieser Richtung hat er sich zunächst um, die Stadt Gotha während einer Reihe von Jahren, namentlich aber in dem Nothjahre 1816 bis 1817 durch Beschaffung von russischem Roggen wohlverdient gemacht. Nach wiederhergestelltem Frieden entwickelte sich der Unternehmungsgeist Arnoldi’s mehr für allgemeine Interessen seines Vaterlandes.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Harrstehude
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 874. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_874.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)