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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Weihnacht in und auf dem Eise.
Mitgeteilt von Brehm.

„Wenn Sie glauben, auch mich mit einem stockgelehrten Votrage abspeisen zu dürfen, verkennen Sie mich gänzlich. Ich will eine Erzählung, keinen Bericht, eine Schilderung Ihres Lebens da oben im Winterdunkel, keine Angabe von Graden, Minuten, Secunden; ich wünsche von Ihnen unterhalten zu werden, wie es unter der ehrsamen Zunft der Landstreicher, zu welcher wir zählen, Brauch und Sitte.“

So ungefähr redete ich die beiden Führer unserer Nordfahrer an, als sie, die mit Recht Hochberühmten, Allverehrten, ist meinem Zimmer kaum warm geworden, obgleich ich aus eigener Erfahrung wußte, wie schwer es ist, zu erzählen, wenn Einem gesagt wird: Erzähle! Beide aber, Koldewey wie Hegemann, ließen sich nicht vergeblich bitten, sondern erzählten nach echter Seemannsweise, schlicht und ruhig von ihren Sindbadfahrten, von ihrem Leben, ihren Abenteuern, Gefahren, ihrem Hunger, ihrem Reichthum, ihrer Armuth, von allem Schrecken und Elend, welches sie erduldet, und von allem Erhabenen und Beglückenden, welches sie genossen. Und je mehr sie erzählten, um so stiller wurde ich, um so mehr schrumpfte mein Landstreicherthum zusammen vor solchen Reisen, und umsomehr bedauerte ich, ihre Worte nicht gleich niederschreiben, sie in ihrer wirkungsmächtigen Schlichtheit wiedergeben zu können. Aber wiederzuerzählen beschloß ich doch, so gewiß ich auch wußte, das Wenige, welches ich herauszugreifen vermöchte, werde nichts Anderes sein als eitele Stümperei.

Schon Anfangs September, schilderte Koldewey, mußten wir daran denken, in dem im Voraus bestimmten Winterhafen vor Anker zu gehen. Wir hatten hierzu eine kleine Bucht der Sabineinsel unter vierundsiebenzig Grad zweiunddreißig Min. nördlicher Breite und achtzehn Grad fünfzig Min. westlicher Länge von Greenwich gewählt, welche uns besonders geeignet zu sein schien. Sie schneidet von Süden nach Norden in das Land ein und gewährt eine nicht unmalerische Aussicht auf dasselbe. Im Nordosten liegt der Germaniaberg, im Nordwesten der Hasenberg, jener neunhundert, dieser, tausendsechshundert Fuß hoch, beide zum Theil mit Schneewehen bedeckt; ein Bach mündet in die Bucht; ein kleiner Landsee liegt zwischen ihr und dem Hasenberge. Ein Eiland, von uns die Walroßinsel genannt, dessen Klippen bis zu fünfhundert Fuß ansteigen und verschiedenen Seevögeln Brutplätze gewähren, liegt außen in südöstlicher Richtung vor und bildet einen Schutzwall gegen die antreibenden Eismassen; kurz, gedachte Bucht vereinigt in sich Alles, was wir hier oben erwarten und finden konnten.

Wir holten unser treffliches Schiff, die Germania, so tief in die Bucht, als möglich war, und gingen bei zehn Fuß Wasser vor Anker. Mitte Septembers froren wir ein und begannen nunmehr, uns für den Winter einzurichten. Das Schiff wurde abgetakelt, eine Mauer von fünfzehn Zoll dicken Eisblöcken rings um dasselbe aufgethürmt, über das Deck ein Zeltdach gelegt, aus welchem die Masten wie Schornsteine hervorragten – und unser Winterhaus war fertig. Vom Schiffe aus führte ein bestimmter Weg nach unserem Beobachtungsposten am Lande; hochaufgeschichtete Eisblöcke als Träger eines Schiffstaues, welches bei Dunkelheit zum Leitfäden, bei Sturm zum Geländer diente, bezeichneten ihn. Das Eis mußte eben zu Allem verwendet werden.

Mehr und mehr senkte sich die Sonne, kürzer wurden die Tage, länger die Nächte, beschränkter unsere Ausflüge, unergiebiger unsere bisher so ausgezeichneten Jagden. Aber wir hatten für Wintervorräthe gesorgt. Unser Deck glich einer Wildkammer. Schockweise hingen die Schneehühner, dutzendweise die Schneehasen in Reih’ und Glied über den Wanten, zwischen und neben Eisbären, Renthieren und Moschusochsen; mindestens fünfzehnhundert Pfund frisches Fleisch waren vorhanden. Am fünften November sahen wir die Sonne zum letzten Male. Blutig, roth stand sie über dem Gesichtsfelde, wie im Hochsommer um Mitternacht – doch Sie kennen ja die Mitternachtssonne und wissen, welche unbeschreibliche Zaubermacht sie ausübt, wenn sie ihren rothen Schimmer auf die schwarzen Berge und die blendenden Gletscher legt. Am sechsten November war es trübe, am siebenten sahen wir keine Sonne mehr. Die lange Winternacht war angebrochen, und nur der Vollmond, welcher allerdings acht Tage lang ununterbrochen, am Himmel stand und die schneeige Landschaft erleuchtete, nicht aber die trüben Nordlichter unterbrachen und erhellten sie. In solchen langen Mondscheinnächten, deren stille Pracht sich wohl erleben, nicht aber schildern läßt, unternahmen wir dann und wann auch längere Ausflüge, namentlich ehe Börgen vom Eisbären gepackt und uns beinahe entführt worden war – Sie kennen ja auch dieses Abenteuer aus des Betroffenen eigenem Munde. Mehr und mehr also wurden wir an das Schiff gefesselt. Von der Kälte hatten wir allerdings nicht zu leiden; denn nach dem ersten Fallen des Quecksilbers bis zu zwanzig Grad unter Null Anfangs Decembers hob sich die Wärme rasch wieder bis zu – vier Grad Réaumur, so daß wir die Thüren unserer Kajüte öffnen mußten, weil es uns in unserem geheizten Wohnraume zu heiß wurde. Zur Jagd aber waren selbst die Mondscheinnächte zu dunkel, und für das Spazierengehen wirkte der regelmäßige Besuch der Bären, denen wir in der Dunkelheit doch nicht gebührendermaßen begegnen konnten, wenigstens nicht ermunternd.

Draußen im Meere trieben Eisschollen, Strömung, Wogen und Stürme ihr Wechselspiel. Vom Schiffe aus vernahmen wir ununterbrochen das Knirschen und Dröhnen der mächtigen Massen. Bei ruhigem Wetter froren sie zusammen, bei Sturm rissen sie von einander, thürmten sich an der Walroßinsel zu mehr als hundert Fuß Höhe auf, barsten unter donnerndem Getöse, glitten übereinander weg, polterten krachend in die Tiefe, stürzten dumpf klatschend in das Meer und erhoben, verschichteten sich von Neuem. Dazwischen brauste und heulte der Sturm, pfiffen die von der Windsbraut gejagten Flocken. Ein solcher Sturm, welcher vom 16. bis zum 20. December wehete, brach dreihundert Schritte nur vom Schiffe die Eisdecke, in welcher dieses festsaß, mitten durch und trieb die losgesprengte, meilenbreite Scholle nebst tausend anderen mit sich weg. Wäre unser Schiff größer gewesen, dort, gerade an der Stelle des gewaltigen Risses hätte es liegen müssen, und – dann ade, Germania!

Drei ruhige Tage nach dem Sturme verscheuchten den Mißmuth, welchen er über uns Alle gebracht, aber nur um einer Stimmung Raum zu geben, die ich kaum anders als eine wehmüthige nennen darf. Ja, Wehmuth war es, welche uns überkam, ob wir, die gefahrtrutzigen, sturmgestählten Männer, es auch nicht zugestehen wollten. Wir schrieben den vierundzwanzigsten December. Goldene Tage der Kindheit – ihr leuchtet in’s Männeralter hinüber, eure Wärme strahlt selbst über die Eisfelder am Nordpol! Was war es doch nur? Warum gerade heute diese Stimmung? Das Wetter war gut und freundlich; es fehlte uns an Nichts; und doch lag eine gewisse Unruhe auf Aller Herzen!

Drinnen in Kajüte und Logis wurde geheimnißvoll gearbeitet. Jeder machte sich zu schaffen. Einen Weihnachtsbaum mußten wir haben. Das einzige Grün, dessen wir habhaft werden konnten, bestand in den Zweigen eines niedrigen Büschchens, der Andromeda tetragona, – sie aber genügte auch. Kunstfertige Hände bauten und banden aus ihnen ein Bäumchen auf und zusammen, und verzierten es mit Lichtern und jenem bunten Allerlei, welches Kinderseelen glücklich macht. Einige waren beschäftigt, den Raum zu schmücken, Andere sorgten für die Freuden der Tafel. Mit allen Flaggen des Schiffes wurden die Wände der Kajüte aufgeputzt, mit allen verfügbaren Lichtern der Raum festlich erleuchtet. In der Mitte breitete sich linnenbedeckt die Tafel mit dem strahlenden Weihnachtsbaume und Geschenken für Alle ringsum. Weitaus der größte Theil der letzteren war uns von deutschen Jungfrauen ausdrücklich zum Zwecke der Bescherung mitgegeben und bis dahin nicht berührt worden. Und die Geberinnen hatten es verstanden, zu schenken: es waren lauter brauchbare Sachen, welche später ein Jeder entdeckte – oft erst nach langem Mühen entdeckte, da sie mit mädchenhafter Schalkheit zehn- und hundertfach verborgen waren unter unscheinbarer Hülle.

Um sechs Uhr Abends, acht Uhr nach Bremer Zeit, rief ich mit der Glocke alle Mann zur Stelle, hielt, wie einem guten Hausvater geziemt, eine kurze Anrede an die kinderfreudigen Männer und vertheilte die Gaben, welche die gemüthvollen Landsleute im fernen Süden uns gespendet. Eine Flasche Schaumwein erhöhete die freudige Feststimmung, und jubelnd brauste der Ruf: „Hoch

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 876. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_876.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)