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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Die Terrasse selbst hat wohl durch die Ereignisse der letzten Zeit manche Veränderung erfahren; es befindet sich nämlich hier ein großer Parkplatz: Artillerie, Kanonen, Munitions- und Bagagewagen – aber Eines ist unverändert geblieben: die Aussicht, welche sich von dieser Höhe bietet. Sie ist noch immer so herrlich, so überraschend reich, wie früher, da die lustigen Pariser mit ihren Frauen und Freundinnen an schönen Sommertagen durch die grünen schattigen Wälder da unten schwärmten, da die Fluthen der Seine von dem muntern Ruderschlag zahlloser Kähne bewegt waren, deren Insassen mit übermüthigem Gesang und prasselndem Feuerwerk der wunderbaren Nächte sich freuten, und da die stolzen herrschaftlichen Villen ringsum von Musik wiederhallten und in den gedrängt vollen öffentlichen Tanzsälen Freude und Leichtsinn entfesselt waren bis zur Ausgelassenheit.

Freilich, das Alles ist heute verstummt, dafür brummen die Kanonen des gerade in der Mitte des Bildes liegenden Forts Mont Valerien dann und wann ihren Gruß, glücklicherweise ohne bis hier herüberzureichen; aber die Aussicht zu dem genannten Fort über die zerstörte Brücke, über die Wälder, Dörfer und Fluren hin ist auf der Terrasse von St. Germain eine unbeschränkte und mit bewaffnetem Auge konnte ich deutlich einzelne Posten dortselbst unterscheiden. Die großartige Eisenbahnbrücke links ist noch wohl erhalten, rechts ist über die Seine, deren Wellen hier eine der zahlreiche reizenden Inseln umspülen, eine Pontonbrücke geschlagen, über welche noch weiter im Hintergrunde auf der Höhe die Wasserleitung von Versailles sichtbar ist. Auch Argenteuil, von wo ich gekommen war, bemerkte ich links vor mir wieder und nicht weit davon den Thurm von St. Denis, wo sich die Begräbnißstätte der französischen Könige befindet, deren unvermeidlicher Anblick von St. Germain aus dem lebenslustigen Ludwig dem Vierzehnten so peinlich war, daß er den Geschmack an St. Germain überhaupt völlig verlor und das Schloß, das denn auch von da an niemals mehr die Residenz eines Königs war, dem aus England vertriebenen Jakob dem Zweiten überließ, der auch dort starb.

Am südlichen Ende der Terrasse befindet sich der von Heinrich dem Vierten erbaute Pavillon. In ihm soll angeblich Ludwig der Vierzehnte das Licht der Welt erblickt haben; sie soll die Geburtsstätte des Mannes sein, von dem Deutschland die meiste Schädigung an seiner Macht und Ehre erlitt und unter dessen gewaltthätiger bluttriefender Faust ein Stück um das andere vom deutschen Reich losgerissen wurde, bis zuletzt auch Straßburg, des deutschen Reiches Schlüssel, seinem schmähliche Verrath erlag. Nun ist dieser Schlüssel wieder zurückerobert, nun ist Alles, Alles wieder in unseren Händen, und ich muß gestehen, daß ich mich eines seltsamen Gefühles nicht erwehren konnte, als ich die deutschen sieggekrönten Heerführer gerade an diesem Orte sah, von welchem mit Ludwig dem Vierzehnten die Politik der Eroberungssucht und unausgesetzten Feindschaft gegen Deutschland ihren Ausgang nahm. Das mahnt doch wie an ein Walten der Nemesis!




Hermann.

Novelle von C. Werner.
(Schluß.)

Sechs Monate waren vergangen, der Winter hatte sein Regiment bereits mit aller Strenge angetreten und die herannahenden Weihnachten kündigten sich mit einem tüchtigen Schneefall an. Vom Kirchthurm des Dörfchens M. läutete die Mittagsglocke, ein überall willkommener Klang, der auch im Pfarrhause freudig begrüßt ward, dessen gesammte jugendliche Bevölkerung mit unendlich gesteigertem Appetit von einer heißen Schlacht kam, die sie draußen im Garten mit Schneeballen einander geliefert. Fünf kleine, frische, von der Kälte roth angehauchte Gesichter reihten sich um den Mittagstisch, und sprachen mit großem Eifer und vollem Interesse den dampfenden Schüsseln zu.

Der Pfarrer, ein schon älterer Mann mit einem freundlichen, milden Gesicht, schien heute ungewöhnlich ernst und nachdenkend. Er teilte seine Aufmerksamkeit zwischen den Kindern und deren Erzieherin, die ihm gegenüber saß, die beiden Kleinsten zur Seite. Es lag eine liebevolle Sorgfalt, zugleich aber eine ruhige Entschiedenheit in der Art, wie sie die lebhafte kleine Gesellschaft befriedigte und in Ordnung hielt, dafür schien diese aber auch mit großer Zärtlichkeit an ihr zu hängen. Fräulein Walter vermochte sich kaum zu retten vor all den Erzählungen und Mittheilungen, in denen eins der unaufhörlich plaudernden Mündchen das andere überbot.

Endlich war das Mittagsessen zu Ende und die kleine wilde Schaar stürmte nach erhaltener Erlaubniß wieder hinaus, um die noch andauernde Freistunde diesmal einer friedlicheren Beschäftigung, nämlich der Errichtung eines Schneemannes, zu widmen.

Gertrud hatte einen Schlüsselkorb ergriffen und wollte gleichfalls das Zimmer verlassen, als der Pfarrer sie zurückhielt, mit der Bitte, ihm auf eine Viertelstunde in seine Studirstube zu folgen, er habe Wichtiges mit ihr zu besprechen. Bereitwillig setzte sie das Körbchen wieder hin und entsprach der Aufforderung. Dies Wichtige war nicht schwer zu errathen; das Weihnachtsfest stand ja bevor und fünf kleine Tischchen sollten besetzt werden.

Indessen schien die Einleitung dieser gewiß sehr harmlosen Ueberlegung dem Herrn Pfarrer einige Mühe zu verursachen, er hustete mehrere Male verlegen, und nahm endlich mit sichtbarer Befangenheit das Wort.

„Zuerst, Fräulein Walter, nehmen Sie meinen innigsten aufrichtigsten Dank für Alles, was Sie mir und meinen Kindern bisher gewesen sind.“

Gertrud sah verwundert auf, die Einleitung klang seltsam feierlich. „Ich that nur meine Pflicht,“ sagte sie ruhig ablehnend.

„O nein, mehr, weit mehr thaten Sie!“ Die anfängliche Befangenheit des Mannes wich jetzt einer warmen Herzlichkeit. „Sie übernahmen nur die Pflicht, den Kindern Unterricht zu ertheilen, und Sie sind ihnen die liebevollste Hüterin, meinem verwaisten Haushalt die treueste Stütze gewesen. Erst seit Ihrem Hiersein weiß ich wieder, daß ich eine Heimath, eine Häuslichkeit besitze.“

Gertrud blieb völlig unbefangen und ahnungslos. „Ich that, was ich vermochte. Die verlorene Mutter freilich kann eine Fremde den Kindern nie ersetzen.“

„Ja, das war’s, wovon ich mit Ihnen sprechen wollte,“ unterbrach sie der Pfarrer hastig. „Ich kann es mir trotz alledem nicht verhehlen, daß meinen Kindern die Mutter, meinem Hause die Frau nothwendig ist, und daß ich –“ er hielt plötzlich inne, denn Gertrud war mit einer unwillkürlichen Bewegung des Schreckens von ihm weggerückt. „Wünschen Sie, daß ich schweige?“

Sie war bleich geworden, aber sie schüttelte leise den Kopf. „Ich bitte, sprechen Sie weiter.“

Er stand auf und ergriff ihre Hand. „Seit den fünf Monaten, daß Sie hier sind, habe ich das Wort unendlich oft auf der Zunge gehabt, und es ebenso oft wieder unterdrückt. Es lag und liegt in Ihrem Wesen etwas, das – lassen Sie mich ganz aufrichtig sein – das mich drückte und fern hielt. Wenn ich Sie noch so freundlich und willig im Hause schalten, und unter Ihren Händen Alles gedeihen sah, ich konnte mich doch nie des Gedankens erwehren, daß Sie im Grunde für einen ganz anderen Lebenskreis geschaffen seien. Aber einmal muß es doch ausgesprochen werden. Sie sind jung, schön und reich begabt in jeder Hinsicht, ich bin ein älterer Mann, ich habe Ihnen nichts zu bieten, als ein einfaches, sehr einfaches Haus, bescheidene Verhältnisse und die Theilnahme an der Sorge für fünf unerzogene Kinder. Kann Ihnen die Liebe dieser Kinder, die Dankbarkeit eines Mannes, der Sie aus vollstem Herzen ehrt und bewundert, ein Ersatz für so manches Opfer sein, das Sie mit Ihrer Einwilligung bringen, so – würden Sie mich sehr glücklich machen.“

Gertrud hatte regungslos, mit gesenkten Augen zugehört, die Blässe ihres Gesichts war noch tiefer geworden, aber ihre Stimme klang ruhig.

„Ihr Antrag ehrt mich, Herr Pfarrer, aber Sie thun mir unrecht, wenn Sie meinen, daß einfache Verhältnisse und Pflichten meiner Natur zuwider sind. Ich habe in Ihrem Hause zum ersten Male wieder empfunden, was es heißt, mit Liebe empfangen und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 882. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_882.jpg&oldid=- (Version vom 30.10.2020)