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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

Momente des gestrigen Tages. Die Franzosen hatten Artenay geräumt, sich dort aber festgesetzt und gaben auf die Avantgarde des neunten Corps (von Manstein) Kreuzfeuer. Die sechsunddreißigste Brigadedivision (Freiherr von Wrangel), unter dem Commando des Oberst Freiherrn von Falkenhausen, wurde vorgeschickt.

„Sie müssen raus,“ hatte der wackere, energische Mansteiner befohlen.

„Sie müssen raus!“ widerhallte es in den Reihen des fünfundachtzigsten Regiments, und das zweite Bataillon avancirte. Die Mühle war von den Franzosen zu einer Festung umgewandelt worden, hinter den Mauern derselben lagen sie in guter Deckung; aus jeder Oeffnung, jeder Ritze blitzte, knallte und krachte es, die Holsteiner wurden mit Blei überschüttet – aber „sie müssen raus!“ hatte der General befohlen, und sie stürmten mit schlagendem Tambour unter Hurrah auf das Bollwerk zu los – als machten die da drinnen und droben mit ihren Flinten nur einen kleinen Spaß, den man mit Schnellfeuer und mit dem blanken Bajonnet erwidern müsse. Mancher Sohn aus den Marschen wird freilich nicht wieder heimkehren, von Manchem wird Weihnachten umsonst ein Brief erwartet werden, und anstatt eines Briefes wird die Zeitung den Namen bringen, mit dem Vermerke: „Gefallen bei Moulin d’Anvillers“ – aber es hatte gar nicht lange gedauert, und sie waren „raus“.

Aber was ist das? Was kommt uns dort entgegen? Kanonen – bespannt, von Franzosen gefahren, mit Franzosen als Bedienungsmannschaft – eins, zwei, drei – sechs, eine ganze Batterie – auch Officiere der Franzosen sind dabei. Was soll das bedeuten? Wäre etwas geschehen? Mein Gott! O nicht doch – es sind ja braune preußische Husaren dabei, welche die ganze Batterie mit Munitionswagen und allem Zubehör in ihre sichernde Mitte genommen haben.

„Wo kommen Sie denn her?“ frug ich den Führer der Husaren.

„Da vorn von dem Dorfe Cercoltes, da haben wir die Batterie attaquirt und mit Pferd und Mann, wie sie dastand, gleich mitgenommen.“

„Gratulire zum eisernen Kreuz!“

„Na, wenn das wahr wäre! Das wäre schon unter der Kanone!“

„Wie sieht es denn vorn aus? Halten die Franzosen Stand? Gehen die Unsrigen vorwärts?“

„Nu, und wie! Hol’ auch der Teufel! Der General von Blumenthal hat das Dorf Cercoltes genommen, und nun geht’s immer voran – hast du nicht gesehen.“

„Cercoltes ist in der Mitte des Waldes von Orleans gelegen; wer das Dorf hat, hat auch den Wald, und der Besitz des Waldes ist auch der Besitz der Stadt.“

„O, nicht doch,“ wurde mir von Seiten eines Fachmanns erwidert. „Der Besitz der Stadt wird noch harten Kampf kosten. Die Franzosen haben sich dort tüchtig verschanzt und Marinegeschütze aufgefahren. Es wird wohl noch der morgende Tag vergehen, ehe wir in Orleans einrücken können.“

„Dann bin ich nur begierig, wo wir unser müdes Haupt heute niederlegen werden. Dessen bin ich gewiß, daß sich’s in einem Berliner oder sonstigen Hôtel besser schlafen wird als da, wo wir heute bleiben werden.“

Die Nacht war schon hereingebrochen, am wolkenlosen Himmel stand der Mond, aber es hätte seines Lichtes nicht bedurft, ringsum wurde die Nacht durch aufsteigende Feuergarben erhellt, es waren die Bivouacsfeuer der Reservetruppen – es waren auch brennende Dörfer.

„Colonne Halt! Nun wieder einmal! Was ist denn los?“

„Cercoltes! Hier macht das Hauptquartier Halt. Quartiere giebt es hier nicht; wer aber eins findet, darf von großem Glücke sagen.“

Man war von dem Sitzen im Wagen ganz steif gefroren; die einzige Möglichkeit, wieder ein Gefühl von Wärme zu bekommen, war die, im Trabe neben dem Wagen herzutrotten; man tröstete sich im Gedanken an eine warme Stube, und nun –

Recht angenehme Mittheilung! Ein neues Artenay! O, noch weit schlimmer als das. Artenay war ein Paris gegen das Dorf Cercoltes. Viele von den Dorfhäusern waren zerschossen, und die schwarzen noch rauchenden Ruinen starrten gespenstisch in den Nachthimmel hinein. In denen jedoch, die noch unversehrt, waren die Fenster erleuchtet, also jedenfalls noch Einwohner vorhanden. Ein Blick durch die Fenster – Soldaten saßen am Kaminfeuer und kochten, und wie im ersten, so im zweiten Hause, so in allen, die wir einer Untersuchung unterwarfen. Die Soldaten auffordern, die Häuser zu räumen? Niemals! Eher unter freiem Himmel übernachten und sich die Knochen zu Stein frieren lassen. Wer weiß, nach wie viel kalten Bivouacnächten dieses das erste erträgliche Quartier für sie war, während Unsereiner immer in guten Ställen gelegen hatte – es wird sich schon noch eine Scheune finden. Dort biegt eine Querstraße von der großen Dorfstraße ab – dort sind einigermaßen stattliche Häuser. Versuchen wir dort unser Glück!

Ich schloß mich dem Armeepostmeister Bock, seinem Secretair Nienow und dem Ingenieurgeographen Hammer an, demselben, der unserer Armee die Wege durch Frankreich vorgezeichnet hat. Das war eine gute Adresse, der wird wohl auch in Cercoltes einen Weg zu einem Nachtquartier finden. Wir kamen vor das erste Haus, klopfen an, es wird uns aufgethan, wir bringen unsere Frage nach einem Zimmer im elegantesten Französisch vor, als Antwort bekommen wir das Wort „Ambulance“ und einen Hinweis auf das rothe Kreuz an der Thür. Dieses hatten wir im Eifer unserer Hoffnungen nicht gesehen. So weiter im nächsten Hause, so im dritten; dann gaben wir unsere Nachforschungen auf. Es war kein Zweifel, das Dorf lag nicht nur voll Soldaten, sondern auch voll Verwundeter. Es war gestern, es war heute den ganzen Tag gekämpft worden, und wo zwei so erbitterte Feinde aufeinanderstoßen, da giebt es Blut und Wunden.

Weiter vor lag noch ein kleines Haus im Dunkel der Nacht. Dasselbe war nicht wie die bisherigen erleuchtet; es schien noch nicht belegt, es schien auch keine Ambulance zu sein – es ist ein Winken der Hoffnung. Darauf hin wird angeklopft. Wer tritt uns entgegen? Der erste Kammerdiener des Generalfeldmarschalls, der biedere Bock. Seine blasse Erscheinung ist ein „lasciate ogni speranza“.

„Bedaure, meine Herren; dieses Häuschen ist für Seine Königliche Hoheit und den Herrn General von Stiehle reservirt; mit Mühe und Noth haben wir hier zwei Stübchen entdeckt, wenn die Herren überhaupt hier übernachten und nicht vielleicht bei den Truppen bleiben werden.“

In demselben Augenblicke wurde vom Eingange der Querstraße her Pferdegetrappel vernehmbar.

„Hier scheint unser gnädigster Herr zu kommen. Verzeihen Sie – –“

Es war Prinz Friedrich Karl mit seinem Stabe. Der Feldherr hatte mit demselben in der Mitte der Truppen an einem Bivouacfeuer bis in die Nacht verweilt; erst als General von Treskow, der Commandeur der siebenzehnten Division, die Meldung schickte, daß er diese Nacht Orleans noch nehmen werde, erst als der Erfolg des Tages gesichert war, beschloß der Feldmarschall, in Cercoltes sein Hauptquartier zu beziehen.

Wir Armen suchten fast noch eine Stunde nach Quartier und ohne Erfolg. Ich weiß nicht, wem der Gedanke kam, uns in der Kirche des Dorfes einzuquartieren; aber er schien uns als letztes Rettungsmittel vor den Unbilden einer sehr kalten Decembernacht äußerst plausibel. Da man Wirthshäuser und Kirchen überall am leichtesten findet, so sahen wir denn auch bald einen ganz stattlichen Kirchenbau vor uns, aber auch zugleich erleuchtete Fenster, und von innen hörten wir lauten Gesang von Männerstimmen erschallen. Was war das? Jedenfalls keine Hoffnung auf ein Nachtquartier. Aber sehen wollten wir dennoch, was da drinnen vorging; denn nach dem Rhythmus der Töne zu schließen, schien der Gesang eben kein kirchlicher zu sein.

„Halt! Wer da?“

Ein Doppelposten hielt uns an. Auf unsere Frage, wer denn in der Kirche sei, ward uns die Antwort: „französische Gefangene,“ und auf unsere Legitimation deutscher Sprache hin die Erlaubniß zum Eintritt. Die ganze Kirche war von gefangenen Franzosen angefüllt. Linientruppen und Mobilgarde, Infanteristen, Cavalleristen und Artilleristen, Weiße und Schwarze – Alles durcheinander. An der Orgel saß ein Zuave und spielte auf.

„Nun genug für Euch – nun möchten wir auch einmal was gespielt haben,“ sagte einer der Soldaten, die Gewehr in Arm die Wache in der Kirche hatten. „Sag’, Franzos’,“ radebrechte er

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_027.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)