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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


eine „blendende Erscheinung“ in diesem Augenblick, und dies kann die einzige Entschuldigung für die plötzliche Betroffenheit und Verwirrung sein, in die ich gerieth, als ich sie so unerwartet vor mir sah.

Sie konnte nicht anders als dies wahrnehmen; meine Anrede war zu stockend hervorgestottert – ich hatte meinen Faust völlig vergessen und ja auch im Salon liegen lassen; es war sehr liebenswürdig von ihr, so rasch meiner Verlegenheit durch die Worte ein Ende zu machen:

„Sie verschmähen also nicht, unserer kleinen Büchersammlung einen Besuch zu machen, obwohl Sie hier in’s Herz Frankreichs gelangen? Dies Alles rundum sind französische Bücher …“ sie deutete auf die dunklen Eichenholzschränke an den Wänden – „das Herz Frankreichs ist nicht Paris, sondern es ist da, wo die Gedanken der großen Geister unseres Landes in ihren besten Werken vereinigt sind. Sie können Paris nehmen, aber auf dieses Herz Frankreichs können Sie die Hand nicht legen; es wird immer mit derselben Kraft und Wärme schlagen, durch alle Zeit und Zukunft, wie der Pendel an der Weltenuhr, deren Zeiger den Völkern zeigt, wann die Stunde einer neuen großen Entwickelung zum Schönen, eines neuen mächtigen Fortschritts zur Freiheit gekommen!“

Ich mußte sie wohl mit einem eigenthümlichen Mienenspiel angesehen haben; anfangs imponirten mir ihre Worte, im nächsten Augenblicke mußte ich auflachen.

Sie sah mit einem bitterbösen Blick zu mir auf.

„Weshalb lachen Sie? … scheint Ihnen das auch ein falsches ‚Dogma‘?“

„Werden Sie mir darum nicht böse,“ versetzte ich – „aber ich konnte nicht anders. Was Sie sagten, war sehr schön, schwunghaft, sonor – es war eines jener Worte, die in Ihrer Presse, in Ihren Volksversammlungen, Ihren Kammern zünden; bei denen das Gemüth eines Franzosen von einer edlen und schönen Regung für sein Vaterland ergriffen wird und sich auf’s Erhabenste erweitert fühlt, – und bei denen sich solch eine kalte kritische Seele, wie sie in uns Deutschen steckt, nur sofort fragt: ist das auch wahr?“

„Nun, ist es nicht wahr?“

„Nein! Weder Italien, als es Dante, Rafael, Michelangelo hervorbrachte, noch England, als es Shakespeare der Welt gab, noch Deutschland, als es die Buchdruckerkunst erfand, die Reformation vollzog, Kant und Goethe gebar, haben nach der französischen Uhr gesehen, ob dazu die Stunde gekommen!“

Sie wurde roth, ich ebenfalls, in der Furcht, sie erzürnt zu haben.

„Ach,“ sagte sie, „ich glaube gar nicht, daß solcher an alte abgethane Geschichten und Namen sich klammernder Widerspruch etwas just nur Deutsches sei … man kann ihm hier in Frankreich auch begegnen … es ist eben nur Widerspruchsgeist, männlicher Widerspruchsgeist; im Grunde fühlen Sie doch, daß ich Recht habe. Und so bin ich weit entfernt,“ setzte sie den Kopf aufwerfend hinzu, „Sie in diesem Augenblick als das, wofür Sie sich ausgeben wollen, den Repräsentanten der deutschen ‚Kritik‘ gelten zu lassen, die jeden Schwung, jeden schönen Enthusiasmus todt macht!“

„Desto besser,“ sagte ich, „die Kritik hat selten das Glück zu gefallen!“

„Etienne,“ wandte sie sich zu dem Geistlichen, „Sie müssen jetzt unserem Gast die einzelnen Abtheilungen der Bibliothek zeigen; sehen Sie, dort,“ sagte sie auf einen der großen Schränke deutend, „finden Sie die geschichtlichen Werke.“

Ich näherte mich dem bezeichneten Schranke und las den Rückentitel der darin aufgestellten Bücher. Neben dem Schranke hing ein schmaler Wandspiegel über einem halbrunden kleinen Marmortische, auf dem eine schöne Bronzebüste stand; als ich darauf hinsah, fiel mein Blick in den Spiegel und ich sah, wie der Abbé eilig dem jungen Mädchen eine leis geflüsterte Mittheilung machte, die etwas wie einen Zug von Aerger oder Verlegenheit in ihren schönen Zügen hervorrief.

Sie sahen sich eine Weile schweigend an – der Geistliche flüsterte dann rasch einige Worte, Fräulein Kühn senkte wie nachdenklich den Kopf – er sprach wieder in sie hinein, endlich nickte sie, wie einwilligend. Der Abbé verließ sie nun und kam zu mir, wie um dann wieder den Führer im Saale zu machen.

Nach einigen flüchtigen Blicken in die nächsten Schränke machte ich mich von ihm los und ging zu Fräulein Kühn zurück, die noch über ihre Mappe gebeugt stand. Sie blätterte jetzt darin und brachte ein Heft zum Vorschein, das sie aufschlug. Es enthielt eine Reihe landschaftlicher Scenerien in Farbendruck.

„Hier ist ein illustrirtes Werk, welches die am meisten malerischen Punkte der Franche Comté enthält,“ sagte sie, es mir zuschiebend. „Nicht wahr, es sind Landschaften von sehr großer Schönheit darunter?“

„Der Künstler hat jedenfalls ein großes Gefühl für Schönheit gehabt,“ versetzte ich, nachdem sie mir die ersten Blätter gezeigt, „aber doch auch wohl stark idealisirt. Ob diese Gegenden wirklich so großartig in ihren Linien und so farbenreich in ihren Einzelnheiten sind, kann ich freilich nicht beurtheilen.“

„Ah – Sie bewundern sie nicht, Sie bringen auch in diese Natur hinein Ihre deutsche Kritik,“ rief Fräulein Kühn gereizt aus. „In der That, das ist stark! Ich möchte Ihren Widerspruchsgeist beschämen, indem ich Ihnen eine dieser Partien zeigte, die wenig Kilometer von hier abwärts am Oignon liegt. Es ist diese hier,“ sie schlug in dem Hefte nach und schob das Bild, als sie es gefunden, vor mich hin. „Sie müssen gestehen, daß es ein reizender Punkt ist, und wenn wir Sie dahin führten, würden Sie sehen, daß der Künstler ihm nicht geschmeichelt, ihn nicht idealisirt hat! Was meinen Sie, Etienne?“

„Ganz gewiß, wir sollten Monsieur dahin führen,“ rief der Abbé mit einer auffallenden Lebhaftigkeit aus, „wir würden ihn da sicherlich beschämt sehen, wenn er an der Schönheit unserer Gegend zweifelt; Monsieur aber würde sich für die Mühe des Weges überreichlich belohnt sehen durch die seltenen Reize der Landschaft.“ …

Ich war ein wenig erstaunt, den geistlichen Herrn so bereitwillig auf einen solchen Plan, der etwas ganz überraschend Freundliches hatte, eingehen zu sehen. Es war mir ein leises Mißtrauen gekommen, daß er meinen Verkehr mit seiner Cousine mit mehr Widerwillen als Freude, ja vielleicht einem eifersüchtigen Gefühle ansehe. Darin, schien es jetzt, hatte ich mich gründlich getäuscht.

„Wenn der Ausflug nicht lange währt und mich nicht zu weit von meinem Posten hier entfernt,“ sagte ich zögernd und, wie ich fürchte, ein wenig roth bei dem Gedanken an solch eine kleine Partie in Gesellschaft des Schloßfräuleins werdend.

„Es ist eine Nachmittagspazierfahrt,“ fiel sie ein, „wir könnten sie gleich heute machen, wenn ich heute meine Mutter, die eine schlechte Nacht hatte, verlassen dürfte; also sei es morgen – nach dem Diner, etwa um vier Uhr …“

Ich verbeugte mich.

„Sorgen Sie für den Wagen Etienne,“ sagte sie; „und nun muß ich nach der Mutter sehen … adieu, mein Herr – bis morgen!“

Man konnte nicht graciöser und zugleich würdevoller mit einem leichten Kopfnicken grüßen, auch nicht anmuthigeren und elastischeren Schrittes dahinwandeln, wie es Fräulein Kühn that, als sie jetzt den Büchersaal verließ.

„Sie werden von Ihren Landsleuten nichts zu besorgen haben, wenn Sie sich in friedlichem Vereine mit einem Feinde in’s Land hinaus wagen?“ fragte ich, als auch ich nun ging, den Geistlichen.

„Darüber seien Sie ohne Sorgen,“ versetzte dieser mir folgend. „Unser Landvolk ist nicht sehr kriegerisch gestimmt. Die Franctireurs, welche vorgestern von Ihnen verfolgt wurden, waren, um es zu gestehen, Leute und ziemlich harmlose Leute aus unserer Gemeinde; diesen ist Fräulein Blanche eine geheiligte Person, und wer als ihr Gast kommt, ist es ebenfalls!“

„Und selbst wenn er ein Barbar aus dem Ulanenvolk von den fernen Grenzen des Dragonerlandes ist?“ sagte ich.

„Sie spotten mit Recht meiner Unwissenheit – meine Cousine hat mich aufgeklärt, wie dumm ich war! Aber wollen Sie jetzt nicht auch in unsere Fremdenzimmer hier nebenan einen Blick werfen?“ fragte der Geistliche.

„Ich danke Ihnen noch einmal für Ihre Güte – ich sagte Ihnen den Grund, weshalb ich sie ablehnen muß,“ versetzte ich.

Ich verbeugte mich und wir trennten uns.

„Du hast Recht,“ sagte ich zu Friedrich, als ich diesen wiedersah, „man will uns durchaus aus diesen Zimmern fortschaffen. Das muß uns wachsam machen. Halte Deine Tapetenthür ein wenig im Auge. Besonders morgen. Ich werde dann

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 38. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_038.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)