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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

der Lüfte. Schon rauschte das gierige Königspaar hinter der das bedrohte Gewild bergenden Felswand hervor, als auch bereits der junge Bock, die dräuende Gefahr erkennend, in flüchtigen Sätzen nach abwärts einen schützenden, von überhängender Steinplatte und Knieholzgewirr völlig gedeckten Hang gewann und so vor augenblicklicher Gefahr geborgen war. Aber auch das Kitzlein, das wohl von vornherein die auserkorene Beute war, flüchtete sich, und zwar mit kindlichem Instinct, in den unmittelbaren Schutz der Mutter, die zwar selbst genugsam erschreckt war, aber doch tapfer Stand hielt, da Flucht für ihren Liebling doch allzuverhängnißvoll werden mußte. Die alte treue Gemse deckte das Kleine mit ihrem eigenen Leibe und schützte todesmuthig das sich ihr dicht anschmiegende Junge lange Zeit gegen das scharfe Gewäff des andringenden königlichen Räuberpaares, wobei die Mutterliebe sie auch noch verzweiflungsvoll und mit Aufwand aller Behendigkeit die spitzen Krickeln, wie die schneidigen Schalen ihrer stahlgesehnten Vorderläufe zur Abwehr der geflügelten Mordgesellen gebrauchen ließ.

Die Beute des Adlers.
Originalzeichnung von Guido Hammer.

Doch bei der endlichen Erschöpfung vom ungewohnten Kampfe, den ihr so überlegene Meister dieses Handwerks aufgedrungen hatten, entschloß sich das treusorgliche Thier zuletzt doch noch zur eiligen Flucht, seinen mitfolgenden Schützling aber auch hierbei noch nach Kräften vor den nicht ablassenden Beutegierigen bewahrend. Es galt nur noch eine kleine Strecke, wo freilich Steintrümmer den Weg verengten und Mutter und Kind auf einen Augenblick von einander trennten. Es waren nur ein paar Minuten, aber sie genügten dem nachsetzenden Adler, das widerstandslose Kitzlein mit berechneten kraftvollen Flügelschlägen weiter, bis zum äußersten Rand des schmalen Kampfplatzes, abzudrängen und von da aus durch fortgesetzte wohlgezielte Stöße hinab in die grausige Tiefe zu stürzen. In Sturmesschnelle nachschießend, während die Genossin die Lüfte über dem Abgrunde durchmaß, und die alte Gemse, das eigene Leben zu retten, flüchtigen Laufes die steile Höhe erklomm, trug der befiederte Sieger bald das zerschmetterte Opfer in starken Fängen aus starrer Thalschlucht empor und hin nach seinem hochgelegenen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 145. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_145.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)