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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Paris, dessen beide einzige Söhne in den Schlachten bei Eylau und bei Bautzen geblieben waren. Die geheime Polizei wußte, daß er über diesen schweren Verlust tief betrübt war, und hatte ihn in Verdacht, daß er ein geschworener Feind des Kaisers sei. Er war ein kluger und vorsichtiger Mann, der wenig Gesellschaft bei sich sah und nur in Gegenwart von ganz sicheren Freunden sich über sein trübes Schicksal und dessen Urheber aussprach. Gegen alle anderen Menschen bewahrte er eine Zurückhaltung, welche die mit der Ausforschung beauftragten Agenten zur Verzweiflung brachte, da alle ihre Versuche vergeblich gewesen waren. Endlich bemerkte man, daß er sich bei seinen täglichen Spaziergängen im Garten des Luxembourg auf eine Bank zu setzen und mit Jemand zu reden pflegte, welcher sein Freund zu sein schien. Sobald sich ihnen Jemand näherte oder gar auf derselben Bank sich niederließ, wurde von gleichgültigen Dingen gesprochen.

An einem schönen Frühlingsnachmittage suchte Herr Talbot im dichten Schatten der Alleen des Luxembourg sich von seinem drückenden Kummer zu zerstreuen. Einer seiner alten Freunde traf ihn daselbst, zog ihn auf eine Bank und fragte ihn hier um den Grund seiner tiefen Bekümmerung.

„Ich hatte,“ sagte er, „zwei Söhne, die einzige Hoffnung meiner alten Tage; allein beide sind ermordet worden, der eine bei der Metzelei von Eylau, der andere bei dem Hinschlachten von Bautzen.“

Er sprach noch, als ein sauber gekleidetes fünfjähriges bildschönes Kind zwischen die Kniee der beiden Freunde flüchtete. Es werde, sagte das Kind, von seiner Wärterin verfolgt. Wirklich sahen sie in der Mitte der Allee eine Wärterin, welche ein anderes Kind auf dem Arme trug. Die kindliche Anmuth des kleinen Flüchtlings gefiel beiden Greisen. Der eine nimmt es auf den Schooß, spricht ihm freundlich zu und verheißt ihm, die Wärterin zu versöhnen. Letztere kommt nicht; Herr Talbot setzt seine Unterredung fort:

„Ja, mein Freund,“ sprach er, „meine Söhne sind nicht mehr! – Guter Gott! wirst Du nie das Ungeheuer zu Boden schmettern, das sie auf die Felder des Todes geschleppt?“

„Ich fühle das ganze Gewicht Ihres Schmerzes,“ entgegnete der Freund, „ich jammere wie Sie; aber wie viele Familien giebt es nicht in Europa, die eben solche Unfälle zu beweinen haben. Sie rufen die Blitze des Himmels herab auf das Haupt des Urhebers aller unserer Leiden. Ihre Wünsche werden, wie ich glaube, bald erfüllt werden. Die Hand Gottes hat den Corsen getroffen, und die Kühnheit seines mörderischen Genies hält es nicht mehr aus gegen die Macht der Verbündeten.“

Allmählich machte sich das Kind von den Knieen des Greises los; da erscheint die Wärterin und eilt auf das Kind zu; dieses entwischt, die Wärterin verfolgt und erhascht es und alsbald verschwinden Beide miteinander.

Zwei Tage darauf wurde Herr Talbot auf dem Markte St. Roche verhaftet und in die Conciergerie gebracht. Erst nach fünf Tagen namenloser Sorge und Qual ward er zum Verhör vor Vidocq geführt. Wie groß war sein Erstaunen, als Vidocq ihm Wort für Wort der Unterredung vorsagte, die er vor acht Tagen mit seinem Freunde im Luxembourg gehabt hatte. Trotz seiner Bestürzung leugnete er Alles. Sofort drohte ihm Vidocq mit einem Zeugen, der ihn zum Geständniß bringen sollte, und gab auch Befehl, den Zeugen herbeizuführen. Beim Anblick seines alten Freundes erging der Verhaftete sich in Verwünschungen gegen den treulosen Verräther, wurde aber von Vidocq aufgeklärt, daß sein Freund durchaus nicht sein Verräther, sondern sein Mitschuldiger und gleich ihm Angeklagter sei. Auf die Darstellung der Unmöglichkeit, daß ein Anderer als dieser Freund ihn verrathen haben könne, da er der Einzige sei, mit dem er vor acht Tagen im Luxembourg gesprochen habe, erwiderte Vidocq: „Das thut nichts. Wissen Sie, daß selbst die Luft uns unbesonnene Reden zuträgt?“ – Später wurden beide Unglückliche nach dem Schlosse Ham abgeführt, um nach Jahren erst zu erfahren, daß jenes Kind ihr Verräther gewesen.

Ein anderes schmähliches Corps im Dienste der geheimen Polizei war die von Napoleon selbst so genannte „Cytherische Cohorte“. Dies war eine Gesellschaft von Leuten beiderlei Geschlechts, welche sich durch Jugend, Schönheit, Anmuth, Talente und Verführungskünste auszeichneten. Schön gewachsene junge Männer, reizende junge Mädchen, von denen sich die meisten durch Schulden zu Grunde gerichtet hatten, der Verschwendung ergeben waren oder von Habsucht getrieben wurden, gaben sich dazu her, sich an die verdächtigen Personen zu machen, ihre Neigung und ihr Vertrauen zu erschleichen und dann die Opfer bei der geheimen Polizei zu verrathen.

Ungeheure Summen wurden von der geheimen Polizei überhaupt verschlungen. Beispielsweise kostete die Ueberwachung des Chevalier de Rivoir Saint Hippolyte, eines Seeofficiers, der stark in die Sache des royalistischen Generals Lemercier verwickelt war, allein von 1807 an, wo er von Madrid wegging, bis zum October 1810, wo er zu Amsterdam verhaftet wurde, die Summe von vierhunderttausendzweihundert Franken, die Transport- und Unterhaltungskosten in den verschiedenen Gefängnissen ungerechnet, in die man ihn gesperrt hatte. Zwei Jahre lang hatte er stets zwei unsichtbare geheime Polizeiagenten um sich gehabt, welche ihm in alle von ihm bereisten Länder nachgefolgt waren. Seine Gattin, welche verhaftet wurde, weil sie in männlicher Verkleidung seine Entweichung vom Schlosse Lourde begünstigt hatte, veranlaßte einen Kostenaufwand von zweiundsiebenzigtausend Franken.

Diese Summen verschwinden aber gegen die Kosten, welche die „Cytherische Cohorte“ verschlang. Allein vom 10. März 1812 bis zum 22. Januar 1813 kostete diese „Cyherische Cohorte“ nicht weniger als fünf Millionen dreihundertzweiunddreißigtausendfünfhundert Franken an Reisekosten, Besoldungen und Vergütungen. Die geheimen Einrichtungen und die Einkerkerung der bedeutendsten Personen waren hauptsächlich das Werk der Mitglieder dieser nichtswürdigen Cohorte, vor der kein Mensch sicher war. So wurde zum Beispiel der Componist Mehül bei der Entdeckung der Entwürfe des Baron Imbert in sehr große Gefahr gebracht, der Royalist General Lemercier zu Lamothe bei Loudai getödtet, der Chevalier Laa, sowie die beiden Herren Dübüc und Rosselin verhaftet. Letztere Beiden fielen als Opfer der unvorsichtigen vertraulichen Mittheilungen, welche ein reicher Banquier einem Mädchen von der „Cytherischen Cohorte“ gemacht hatte. Der Banquier hatte nicht geahnt, daß dies weibliche Ungeheuer gerade die gewandteste Spionin der geheimen Polizei war und daß ihre ganze Verführungskunst es nur auf diese Mittheilungen abgesehen hatte. Ein Anderer, der von einem solchen weiblichen Ungeheuer verlockt und verrathen war, erbot sich sogar, die Person zu heirathen, doch umsonst; er wurde als geheimer Agent des Berliner Cabinets auf der Ebene von Grenelle erschossen. Ohne die thörichte Leidenschaft, welche er für das unselige Geschöpf gefaßt hatte, das ihn verrieth und dem Tode überlieferte, und ohne die vertraulichen Mittheilungen, die er ihr machte, würde er niemals überführt worden sein.

Fast immer blieben die Verräther den Opfern unbekannt; so kam es denn, daß letztere sogar die ersteren in’s Gefängniß kommen ließen, um von ihnen Trost, Rath und Beistand zu erbitten, und manches Ungeheuer legte den Balsam eines erheuchelten Mitleids auf die Wunden, die es selbst so meuchlerisch geschlagen hatte. Der Verräther des Baron Kolli nahm sogar noch einen Diamanten an, den ihm sein Opfer einige Tage vor seinem Tode heimlich als Freundschaftszeichen hatte überreichen lassen.

Doch gab es noch andere Weisen, den verdächtigen Personen Geheimnisse zu entreißen. Der Polizeiminister Savary (Herzog von Rovigo), der mit seiner geheimen Polizei in der tragischen Sache des Herzogs von Enghien eine so schmachvolle Rolle spielt, hatte in seinem Palais eine besondere Stube, in welcher zuweilen die Verhafteten aufbewahrt wurden. Hier besuchten die abgefeimtesten Inspectoren der geheimen Polizei den Gefangenen, sprachen wenig über seine Angelegenheit, laden ihn aber zu Tische ein. Die Küche des Ministers lieferte Alles, was zu einer guten Mahlzeit gehörte, besonders treffliche Weine. Der Zweck ging dahin, dem Gefangenen tüchtig zuzutrinken, um ihn völlig betrunken zu machen und ihm in diesem Zustande seine Geheimnisse zu entlocken. So ist Manchem diese Bewirthung im Palast des Polizeiministers die Henkersmahlzeit gewesen.

Wie nun bei einem solchen Verfahren Alles, was Wahrheit, Ehre, Sitte, Recht und Freiheit war, mit Füßen getreten wurde, erkennt man schon aus den angeführten Beispielen, und wenn man weiß, daß ein Vidocq an der Spitze dieser Ungeheuer stand, so kann man schon auf den sittlichen Gehalt seiner Untergebenen schließen. Zwei dieser Nichtswürdigen gingen einmal den sehr reichen irländischen Priester Macarthy um ein „Anlehen von viertausend Franken“ an, welches Macarthy unglücklicherweise ihnen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 151. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_151.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)