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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Demarcationslinie ergangen, keinen Menschen mehr weder herüber noch hinüber passiren zu lassen. Dieser Umstand eröffnete keine erfreuliche Aussicht für mich, und ich fand es nichts weniger als wünschenswerth, noch länger oder gar noch die kommende Nacht mitten in der fanatisch aufgeregten Bevölkerung zu verweilen. Aber auch die Pariser waren mit der getroffenen Anordnung unzufrieden. Viele von ihnen waren ja in der gleichen Lage wie ich, so daß es an höchst unliebsamen Erörterungen nicht fehlen konnte. Die Masse der heimwärts Begehrenden häufte sich an einzelnen Punkten so sehr an, daß eine Verstärkung der Wachen sich nöthig machte; trotzdem gelang es weder mir noch Anderen, die Postenkette zu durchbrechen.

Der erwähnte Befehl war so unerwartet gekommen, daß eine Frau, die nur wenige Häuser von der Demarcationslinie wohnte und nur gegangen war, einen Eimer Wasser zu holen, nun mit diesem und in bloßen Armen auf der Straße stand, ohne zurück zu können. Es war eine höchst ergötzliche Scene, ihren ausbrechenden Unmuth zu beobachten; trotzdem wuchs meine eigene Unruhe von Minute zu Minute, denn schon an zwei Stunden irrte ich längs der Demarcationslinie hin, ohne irgendwo durchschlüpfen zu können. Endlich kam ich in ein kleines Gäßchen, wo nur zwei Posten standen und wo der Verkehr des Publicums gleich Null war. Ich machte mich an die beiden Mobilgardisten heran und fand sie freundlicher, als ich hoffen durfte. Noch ein paar eindringlich bittende Worte meinerseits, dann ein Lächeln des einen Mobilgardisten, zuletzt eine artig gewährende Handbewegung des andern und ich war wieder im „deutschen Paris“. Ich athmete aus vollem Herzen auf; dann aber dachte ich zunächst an meinen Magen, dem den ganzen Tag wider meinen Willen die größte Mißachtung meinerseits widerfahren war, und als ich auch diese Pflicht freudig erfüllt hatte, machte ich mich über Courbevoie, Colombes und Argenteuil wieder auf den Heimweg hierher nach Margency, wo ich nach fast dreistündigem Marsche gegen acht Uhr ankam, voll der Erinnerungen, welche mir dieser Tag gebracht und welche auch mein ganzes Leben begleiten werden. Ich hätte keinen schöneren, großartigeren und bedeutenderen Eindruck, als diesen Einzug und Aufenthalt in Paris, zum Schlusse mit hinwegnehmen können. Zum Schlusse! Schon in den nächsten Tagen bricht das Hauptquartier seine Zelte hier ab und unser Aller Blicke sind sehnsüchtig nach Osten gerichtet, nach der Heimath.




Die Zuwider-Wurzen.
Eine Geschichte aus den bairischen Bergen.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)


Für Stasi war die Stunde gekommen, wo ihr Herz, von den lange verschluckten Thränen erweicht, völlig zerging; sie wandte sich im Bette der Base zu, legte ihr den Kopf an die Brust und schlang die Arme um ihren Hals, als wolle sie nicht gesehen werden bei dem, was zu sagen sie bitter mit sich rang. Das war aber unnöthig; die Fensterläden der Kammer waren geschlossen und verursachten so vollständige Dunkelheit, daß selbst der steigende Morgen nicht einzudringen vermochte, und eben dieses Dunkel war es wieder, was die Bekennende ermuthigte. Der alten Base aber ging, als das Mädchen so ganz in Liebe hingegeben und in Schmerz aufgelöst an ihre Brust sank, ein Freudenfeuer in der Seele auf, bei dessen Schein sie sich selbst und ihr armes, einsames Leben kaum wiedererkannte – Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart flossen ineinander wie die Linien einer schönen, nach langem Sturm vom Abendroth beschienenen Landschaft. Die Augen, die das Naßwerden lange vergessen hatten, gingen über, als Stasi erzählte, wie es ihr gerade so ergangen wie der Base, und daß sie, als diese kaum von der Brettenalm fortgewesen, gleich ihr auf der Schwelle der Almhütte einen Buschen von Edelweiß gefunden. Zögernder löste sich die Erzählung von den Lippen des Mädchens, als sie zu der Begegnung mit ihrem Feinde kam, zu der Trennung von ihm und der nur gesteigerten Feindseligkeit zwischen Beiden; sie stockte immer mehr, als es galt, zu berichten, was dann geschehen: die Entrüstung der ersten Stunden, das ruhigere Ueberlegen der darauffolgenden, das Aufwallen und Niedersinken der Gefühle, bis aus ihm ein Entschluß aufgetaucht, den sie selbst nicht zu begreifen vermochte – der Entschluß, den weggeworfenen Blumenbusch um jeden Preis zu besitzen. Sie hatte eine neue Kränkung darin gefunden, daß Martl den Strauß, nachdem er ihn einmal gebracht, wieder zu sich genommen und weggeworfen hatte; wenn sie ihn auch bei Seite gelegt, so war es ja doch noch immer bei ihr gestanden, ob sie das Geschenk annehmen oder zurückweisen wolle, und er mußte immerhin abwarten, ob sie sich nicht noch anders besinnen würde. Es war ihr zuletzt vollkommen klar geworden, daß der Busch mit vollem Rechte ihr gehörte; darum mußte und wollte sie ihn auch besitzen. Behutsam über das Geländer gebeugt, sah sie zuerst in den tosenden Sturzbach hinab; aber von den Blumen war nirgend eine Spur zu entdecken. Bald umging sie das Geländer, um den steilen Hang neben der Schlucht hinunterzuklettern, und siehe da, sie war noch nicht sehr weit gekommen, als sie wenigstens einen Theil dessen, was sie suchte, gewahr wurde. Der Busch hatte sich im Fallen aufgelöst, die meisten Blumen waren in’s Wasser gefallen und mit ihm in die Tiefe gestürzt; aber einige der schönsten Sterne hatte ein glückliches Ungefähr seitwärts auf ein Felsstück geschleudert, wo sie nun zierlich und frisch im Moose lagen, von dem stäubenden Wasserfalle besprüht, als hingen Thränen daran über die Verachtung und Mißhandlung, die ihnen zu Theil geworden. Es war eine bedenkliche Stelle, an der die Blumen lagen, und es gehörte ein wohlgeübter Kletterer dazu, um dahin zu gelangen; ein einziger unsicherer Tritt konnte zum Sturze in das Wasser oder über den nicht minder steilen Felsabhang werden. Langsam und vorsichtig schritt sie auf der gefährlichen Bahn dahin; die überhängende Wurzel eines umgehauenen Tannenstammes, die noch in der Wand steckte, bot ihr die einzige Stütze; während sie mit einer Hand sich daran anklammerte, vermochte sie die andere nach dem Felsstück mit den Blumen auszustrecken, schon war sie nahe daran, schon hatte sie, weit vorgebeugt, die Blumenstengel erreicht und ergriffen – als knackend die morsche Tannenwurzel brach, der sie vertraut hatte, und sie haltlos ein ansehnliches Stück des steilen Abhanges hinunter glitt oder stürzte; ohne einen Busch schützender Latschen, die sie im Fallen aufhielten und ihr Gelegenheit boten, sich anzuhalten und aufzuraffen, wäre der Ausgang wohl ein schlimmer geworden und die Tiefen der Felsschlucht hätten all’ ihrem Grimm und Gram auf einmal ein Ende gemacht.

Die Base erwiderte nicht viel auf Stasi’s Erzählung; sie unterbrach sie nur hier und da mit einem Ausruf der Verwunderung, einem Laute der Theilnahme; als sie geendet, blieben Beide eine Weile still. Dann legte die Alte Stasi’s Hand, die sie in der ihren gehalten, auf’s Bett zurück und erhob sich; es war Zeit, nach den Dienstboten und der Arbeit in Haus und Stall zu sehen; denn im Leben des Bauern hat das eigene Erlebniß nur den zweiten Rang: ob die Arbeit mit fröhlichem oder blutendem Herzen geschieht, ist gleich, aber geschehen muß sie unerbittlich in derselben Art und zu der nämlichen Stunde. „Es ist Tag, Stasi, ich muß fort,“ sagte sie dazu. „B’hüt’ Dich Gott! Ich will’s überlegen und in mir verkochen, was ich jetzt erfahr’n hab’; dann will ich Dir meine Meinung sagen – jetzt weiß ich freilich, wie viel’s bei Dir g’schlag’n hat, besser als Du selber. Wenn ich Dir helfen kann, thu’ ich’s gern; wie man aber helfen soll, das weiß ich noch nit – sei aber darum noch nit verzagt! Es geht oft ein End’ her, wo man’s am wenigsten enttraut. … Aber – aber,“ schloß sie im Fortgehen, „eine böse G’schicht’ ist’s und bleibt’s allemal; wirst einen harten Stand haben; ich sorg’ – ich sorg’ alleweil’, es geht auf’m Kurzenhof, wie’s schon einmal ’gangen hat.“ Sie entfernte sich. Den Tag über trafen sich Beide nicht mehr; Stasi schien eine Begegnung zu vermeiden, die Base suchte sie nicht. Beider Herz war zum Ueberquellen voll; aber nachdem die eine Mittheilung stattgefunden, hatte Jede mit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 238. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_238.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)