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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Er schien das selbst zu fühlen, denn er hielt nach einer Weile plötzlich inne und sagte in sichtbarer Verlegenheit:

„Ich vergaß, daß der Weg sich nicht für eine Dame eignet. Wollen wir umkehren?“

„Ich meine, daß wir bereits die Hälfte zurückgelegt haben,“ gab Jane in etwas gereiztem Tone zur Antwort. „Das Ziel kann nicht mehr weit entfernt sein.“

„Dort hinten, das Gittertor!“

„Nun, dann lassen Sie uns vorwärts gehen.“

Es ging in der That noch etwa hundert Schritt vorwärts, dann aber tauchte ein völliges Hinderniß auf. Die ganze tiefer gelegene Stelle des Weges war vom Regen überschwemmt, der hier einen förmlichen See bildete und, die ganze Breite des Ganges einnehmend, nicht zu umgehen war. Der unglückliche Führer stand ratlos davor.

„Sie können unmöglich hier hindurch!“ sagte er ängstlich.

„Ich will es versuchen!“ antwortete Jane resignirt und setzte die Spitze ihres Fußes in das Wasser, aber er hielt sie eifrig zurück.

„Unmöglich! Das Wasser ist fußtief! Wenn nur – wenn Sie mir gestatten wollten, Sie hinüber zu tragen.“

Die Frage kam sehr schüchtern heraus und Jane streifte mit einem halb mitleidigen, halb verächtlichen Blick die zwar hohe, aber äußerst schlanke und zarte Gestalt mit ihrer gebückten Haltung!

„Ich danke!“ entgegnete sie mit unverhehlter Ironie. „Die Last möchte doch zu schwer für Sie sein.“

Der Spott hatte eine ganz eigenthümliche Wirkung auf den bisher so schüchternen Fremden. Eine Purpurgluth schoß plötzlich in dem bleichen Antlitz auf, mit einem Ruck hatte er sich emporgerichtet, die junge Dame auf seine Arme gehoben und stand bereits mit ihr mitten im Wasser. Das alles ging so blitzschnell, daß Jane, überrascht und bestürzt, gar keine Zeit fand, sich zu sträuben, jetzt aber machte sie eine rasche Bewegung, entschlossen, lieber in das fußtiefe Wasser zu gleiten, als eine Freiheit zu dulden, die man sich gegen ihren Willen genommen – da begegnete sie auf einmal seinen Augen. War es die stumme, beinahe flehende Bitte darin, oder lag noch irgend etwas Anderes, Seltsames in diesem Blick – Jane senkte langsam den ihrigen, das beklemmende Gefühl von vorhin kam mit verdoppelter Macht zurück, und regungslos verharrte sie in ihrer Stellung, während er mit einer Kraft, die Niemand diesen Armen zugetraut hätte, sie vollends hinübertrug.

„Ich bitte um Verzeihung!“ sagte er leise, während er seine Last scheu und ehrfurchtsvoll drüben am Gartenthor niedersetzte.

„Ich danke!“ erwiderte Jane kurz und kalt, stieß selbst die Gittertür auf und trat ein.

Sie hatten nur wenige Schritte in den Garten hineingethan, als eine große, fast hünenhafte Gestalt dicht vor ihnen auftauchte.

„Herr Professor, um Gotteswillen, Sie sind wirklich ausgewesen in diesem Wetter! Und noch dazu ohne Regenschirm! Sie werden sich den Schnupfen holen, das Fieber, den Tod – und der Plaid! Herr Professor, wo ist denn Ihr Plaid geblieben?“

Mühsam und beinahe unwillig wehrte der Professor den Besorgten von sich ab, der mit einem großen Regenschirm bewaffnet, in etwas aufdringlicher Weise ihn zu schützen bemüht war.

„Aber Friedrich! Siehst Du denn gar nicht?“ Er wies auf Jane, die Jener in seinem übergroßen Eifer noch nicht bemerkt hatte, diese neue Thatsache aber, die Erscheinung einer jungen Dame an der Seite seines Herrn, schien gänzlich über die Fassungskraft Friedrichs zu gehen, er ließ den Regenschirm sinken und starrte die Beiden mit offenem Munde an, in einer so grenzenlosen Verwunderung, daß man deutlich sah, dergleichen war ihm noch niemals vorgekommen.

Der Professor machte rasch seinem stummen Entsetzen ein Ende. „Es ist die junge Dame, welche beim Doctor Stephan erwartet wird,“ sagte er. „Geh jetzt und sage dem Doctor –“

Weiter kam er nicht mit seinem Auftrage, denn Friedrich hatte kaum die ersten Worte vernommen, als er einen unarticulirten Laut ausstieß, plötzlich Kehrt machte und in mächtigen Sätzen davonschoß. Jane blieb stehen und sah den Professor an, ihre Miene verrieth deutlich, was sie von ihren deutschen Landsleuten zu denken begann, und daß sie nach der Begegnung mit den ersten beiden Exemplaren derselben sich einigen Zweifel an deren Zurechnungsfähigkeit überhaupt erlaubte. Der Herr sowohl als der Diener waren in ihren Augen gleich lächerlich.

Im Hause hatte inzwischen der Alarmruf Friedrich’s einen förmlichen Aufruhr veranlaßt. Thüren wurden aufgerissen und zugeschlagen, Treppen krachten unter schweren und leichten Tritten, man schien in stürmischer Eile noch einige Empfangsfeierlichkeiten zu improvisiren, oder doch die bereits vorbereiteten in Ordnung zu bringen, und als sich Jane endlich in Begleitung des Professors dem Haupteingange näherte, wartete ihrer denn auch eine Ueberraschung. Reiche Blumenguirlanden umgaben Thür und Pfeiler, ein riesiges „Willkommen“ prangte über der ersteren, Blumen waren auf Flur und Treppe gestreut, und am Fuß derselben stand der große Friedrich, ein ebenso großes Bouquet in den Händen, das er mit einem stolzen Lächeln auf seinem breiten Gesichte in ziemlich ungeschickter Weise der jungen Dame dicht vor die Nase hielt.

Ein solcher Empfang war jedoch augenscheinlich nicht im Geschmack von Miß Forest. Man hatte in ihrem Vaterhause wahrscheinlich dergleichen „überflüssige Sentimentalitäten“ ebenso sehr gemieden, wie man dort die „unpassende Vertraulichkeit“ der Dienstboten in Schranken hielt. Jane’s Augenbrauen zogen sich zusammen, sie sah den ihr entgegentretenden Diener von oben bis unten an, und als er, eingeschüchtert durch diesen sehr ungnädigen Blick, zur Seite wich, rauschte sie mit einer vornehmen Handbewegung, in der sehr wenig von Dank und sehr viel von kalter Zurückweisung lag, an ihm vorüber, die Treppe hinauf und trat, ohne die ihretwegen getroffenen festlichen Anstalten auch nur eines einzigen Blickes zu würdigen, in den Flur, wo jetzt eben Doctor Stephan und seine Frau erschienen.

Der Professor stand noch immer wie gebannt unten und blickte ihr nach, durch die noch eine Minute offen bleibende Thür. Er sah, wie die junge Dame, durch die doch gewiß eigenthümliche erste Begegnung mit ihren Verwandten, zu denen sie unerwartet, durchnäßt, durch’s Gartenpförtchen und in Begleitung eines völlig Fremden kam, auch nicht einen Augenblick aus der Fassung gebracht, auf ihren Oheim zuschritt, ihm mit kühler Artigkeit die Hand reichte, mit genau demselben Ausdruck der Tante die Wange zum Kusse bot, sich dann emporrichtete und Beiden gegenüberstand, so entschieden, so hoheitsvoll und selbstbewußt, als wolle sie gleich im ersten Moment der Begrüßung gegen jede etwaige Bevormundung oder Unterordnung ihrerseits protestieren.

Die Thür fiel zu und wie aus einem Traum erwachend fuhr der Professor auf und blickte sich nach Friedrich um. Der arme Bursche stand noch immer am Fuß der Treppe; die Blumen waren seinen Händen entfallen, und regungslos starrte er der schönen stolzen Erscheinung nach, die ihn so herb abgewiesen. Sein Herr legte die Hand auf seine Schulter.

„Komm mit hinauf, Friedrich.“

Bei dieser Anrede kam einiges Leben in die Züge des Burschen, die allmählich den Ausdruck tiefster Gekränktheit annahmen, er fuhr mit der Hand durch sein staubblondes Haar und blickte mit den hellblauen Augen, in denen ein paar bittere Thränen standen, seinen Herrn an.

„Ja, was habe ich denn eigentlich gethan?“ fragte er im kläglichsten Tone.

„Laß gut sein, Friedrich,“ sagte der Professor gepreßt. „Die junge Dame ist vermuthlich an diese deutsche Art des Empfanges nicht gewöhnt, Komm jetzt.“

Friedrich gehorchte, er bückte sich nach seinem Bouquet und hob es auf, beim Anblick desselben aber schien sich seine bisherige Gekränktheit in Zorn zu verwandeln. Mit dem Ausdruck vollster Wut ergriff er den Strauß und schleuderte ihn weit hinaus in den Garten.

„Friedrich!“ Der Ruf und der ernste Ton seines Herrn brachte den Burschen sofort zur Besinnung.

„Ich komme schon, Herr Professor!“ antwortete er demüthig, und mit der Hand die Thränen aus dem Auge wischend, schlich er mit gesenktem Haupte hinter seinem Herrn die Treppe hinauf.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 244. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_244.jpg&oldid=- (Version vom 1.10.2017)