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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


erste Stadium des Haarschwundes; sobald die Abnahme auch des Dickendurchmessers eintritt, beginnt das zweite Stadium.

Alle Krankheitszustände gehen die durch die normalen Verhältnisse vorgezeichneten Wege: das gesunde Haar zeigt in der letzten Hälfte seines Wachsthums eine allmähliche, aber stetige Abnahme seines Dickendurchmessers, jedoch nur bis zu dreifünftel seiner normalen Stärke; die Verdünnung, welche im zweiten Stadium des Haarschwundes eintritt, erfolgt in derselben Weise, nur bis zu einem viel höheren Grade. Fällt dieses schon so verdünnte Haar aus, so zeigt der Nachwuchs schon an keiner Stelle seines Daseins mehr die ursprüngliche Kräftigung, und allmählich bekommt der weitere Nachwuchs den Charakter des ganz dünnen, des Wollhaares.

Die chronischen Haarkrankheiten haben einen fortschreitenden Charakter; dies Fortschreiten kann in doppelter Weise erfolgen. In dem einen Fall wird ein großer Theil der ganzen Kopfhaut (gewöhnlich der Mittelkopf) in der Weise ergriffen, daß in einer jeden Haargruppe je ein Haar an Dicke einbüßt, während die anderen Einsassen desselben Kreises noch ihre früheren Durchmesser behalten haben. Im Ganzen erscheint ein solcher Kopf noch wohl behaart, nur etwas weniger dicht bestanden, als früher. Im Lauf weniger Jahre werden dann die anderen Einsassen der Haarkreise in den Krankheitsproceß hineingezogen – es bildet sich eine „Platte“ aus. In dem anderen Fall ergreift das Leiden eine verhältnißmäßig kleine Stelle von der Ausdehnung eines Zehngroschenstückes, entweder auf der Höhe des Scheitels oder einen Zoll hinter dem vorderen Rande des Haarwuchses, selten an einer anderen Region; an dieser erkrankten Stelle büßen im Zeitraum eines Jahres fast alle Haare ihre normale Länge und Dicke ein. Das allgemeine Aussehen eines solchen Kopfes giebt den Eindruck einer Tonsur in einem kräftigen Haarwuchs. Erst wenn eine solche kleine Platte sich gebildet hat, schreitet das Leiden zu den benachbarten Haarkreisen weiter.

Im Allgemeinen kann man sagen: die erste Art des Fortschreitens (bei welchem ein großer Theil der Kopfhaut auf Einmal ergriffen ist, aber so, daß die Einsassen ein und desselben Kreises die verschiedenen Stadien der Krankheit gleichzeitig neben einander zeigen) findet sich mehr in jüngeren Jahren; die zweite Art (die Tonsur) mehr bei älteren Leuten.

Daß das erste Stadium der chronischen Haarleiden die Dicke des Haares gar nicht und damit auch die Stärke des ganzen Haarwuchses nicht auffällig angreift – dieser Umstand ist schuld, daß die Patienten von dem Bestehen der Krankheit keine Ahnung haben. Die Verkürzung des Haares bemerken sie nicht und sie wissen auch nicht, daß auf diese Verkürzung nach einer gewissen Frist eine Verdünnung des einzelnen Haares folgt. Das Uebel kommt ihnen erst zur Erkenntniß, wenn das zweite Stadium eingetreten ist. Dann ist es, wie bereits erwähnt, meist zu spät, der beginnenden Kahlköpfigkeit Einhalt zu thun. Auf frühe Erkenntniß des Uebels kommt es also an.

Das bequemste Mittel zu dieser möglichst frühen Erkenntniß habe ich bereits im Eingange dieses Aufsatzes angedeutet: man sammle an drei aufeinander folgenden Tagen sorgfältig den Haarausfall beim Morgen- und Abendfrisiren und sondere (bei langer Haartracht) die Haare über sechs Zoll von den kürzeren; findet sich, daß die Zahl der kürzeren ein Drittel des Gesammtausfalls beträgt, so liegt ein beginnendes Haarleiden vor, welches ärztliches Einschreiten erfordert. Bei kurzer Haartracht (Männer, Frauen mit kurzgeschnittenem Haar) sondere man diejenigen Haare, welche die Spur der Scheere zeigen, von denjenigen, welche noch ihre natürliche Spitze haben (ich nenne diese der kurzen Bezeichnung halber Spitzenhaare); die Zahl dieser Spitzenhaare darf bei einer Länge der Haartracht von fünf Zoll nur ein Viertel des Gesammtausfalls betragen.

Die Aerzte haben früher das vorzeilige Ausgehen der Haare als Folge einer allgemeinen oder örtlichen Schwäche angesehen. Man kam zu dieser Anschauung, weil man sah, daß nach schwächenden Einflüssen (schweren Erkrankungen) ein acutes Haarleiden (massenhafter Haarausfall) eintrat, und weil man nun nach Analogie eine solche Schwäche auch bei chronischen Haarkrankheiten voraussetzte. Seit Simson hat ein kräftiger Haarwuchs für das Zeichen einer kraftvollen Constitution gegolten: es lag der Schluß nahe, daß die Abnahme der ursprünglichen Kräftigkeit des Haarwuchses ein Reflex der Abnahme der Gesammtkräftigkeit sei. Bei diesem Schluß übersah man gänzlich, daß eine große Anzahl robuster, völlig gesunder Menschen, mit sehr solider Lebensweise, früh kahlköpfig wurden. Man hielt fest an der Vormeinung der Schwäche und erwartete daher Hülfe von den „Stärkungsmitteln“ oder, was in einer gewissen Epoche der Entwicklung der Medicin dasselbe bedeutete, von den „Reizmitteln“.

Diese Anschauung der Aerzte früherer Zeit ist damals ins Publicum übertragen worden und hat sich hier eingebürgert. Fast alle meine Patienten haben, bevor sie zu mir kamen, Monate hindurch solche Reizmittel (Spiritus, Franzbranntwein, Eau de Cologne, Ricinusöl) gebraucht. Sehr zu ihrem Schaden! Alle diese Reizmittel verkürzen die Lebensdauer des Haares, oder, um mich einer geläufigen Vorstellung, eines Bildes zu bedienen: sie erschöpfen den Haarboden.

Ich muß des Allerdringendsten vor dem Gebrauch solcher „Stärkungsmittel“ warnen. Die erkrankte Kopfhaut erträgt sie nicht. Nicht eine Schwäche liegt vor, sondern ein Krankheitsreiz: diesen zu beseitigen oder, wenn die völlige Beseitigung nicht mehr möglich, zu verringern – das ist die Aufgabe. Und diese Aufgabe läßt sich oft lösen. Aber nicht mit einem „Generalmittel“. Nicht wenige Patienten kommen zu mir in der Voraussetzung, als ob ich ein bestimmtes „Haarmittel“ hätte. Solche „Haarmittel“ giebt es nicht. Es giebt nur gewisse Medicamente, welche den Ursachen des vorzeitigen Haarschwundes, der Verkürzung und der Verdünnung des Haares entgegenwirken; aber diese Medicamente müssen je nach der Natur und dem Verlauf des Falles, je nach dem Stadium des Leidens, nach den Ursachen, nach der Gesammtconstitution ausgewählt und in ihrer Dosis bestimmt, respective verändert werden. Ein Mittel, das heut paßt, ist schon nach vier Wochen ungeeignet, oder ist in der früher angewendeten Dosis nicht mehr passend. Und dem nachdenkenden Laien kann das nicht auffällig sein, er braucht sich nur seiner eigenen Erfahrungen bei anderen Krankheitszuständen zu erinnern: bei einem acuten Uebel, welches ab und zu wieder auftritt (Magenkatarrh, Luftröhrenkatarrh), oder bei einem chronischen, welches ab und zu Anfälle macht (Migräne, Asthma) – da bringt wohl ein und dasselbe Medicament, das in diesem Fall schon früher erprobt worden, nun wiederum Hülfe der Linderung; wer aber ein stetiges chronisches Leiden hat (z. B. einen chronischen Hautausschlag, eine chronische Augenentzündung), der weiß, daß eine Arznei, welche in einem gewissen Stadium dieses Uebels Linderung brachte, später gar nicht mehr wirkte oder geradezu schadete.

Ein chronisches Haarleiden muß in derselben Weise wie irgend eine andere, sehr chronische Krankheit vom Arzt beobachtet und behandelt werden.

Dr. Pincus.




Erinnerungen aus dem heiligen Kriege.
Nr. 3. Kriegerische Abenteuer einer friedfertigen Primadonna.[1]


Am achtzehnten August des vergangenen Jahres strömten die Berliner in Sturmschritten wieder einmal den Litfaßsäulen zu, um Einsicht von der eben angeschlagenen Siegesdepesche zu nehmen.

Wohl an fünfzig Menschen, junge und alte, beiderlei Geschlechts und aus den verschiedensten Ständen, umdrängten eine Säule nahe der Victoriastraße; natürlich konnten die entfernt Stehenden von der Schrift der auf orangefarbenem Papier gedruckten Depesche nichts erkennen.

„Laut vorlesen!“ erschallte eine Stimme aus dem Hintergrunde.

„Ja, ja, vorlesen!“ rief es im Chorus durcheinander.

„Drängeln Sie doch nicht so, liebe Frau! Was interessirt Ihnen denn das?“ rief ein breitspuriger Bezirksvorsteher einer jungen Frau zu, die, mit einem Kinde auf dem Arme, sich mit Hülfe ihrer Ellenbogen durchzuarbeiten suchte.

„Was mir das interessirt?“ erwiderte die Repermandirte,

  1. Den Mittheilungen der Sängerin getreu nacherzählt.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 285. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_285.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)