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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


die strengste Selbstbeherrschung gewöhnt gewesen, die Züge hätten vielleicht noch mehr von der stürmischen Bewegung verrathen, die das ganze Wesen der jungen Dame durchbebte, jetzt sprachen nur die heißgerötheten Wangen, die flammenden Augen davon, aber sie sagten genug, um ihre schnell erfundene Ausflucht der Lüge zu zeihen.

„Mir ist nichts, gar nichts, ich leide nur von der unerträglichen Hitze, vor der ich hier vergebens Schutz suchte.“

Atkins sah sie mißtrauisch an, plötzlich schien ihm ein Gedanke zu kommen; es gab nur einen einzigen Gegenstand, bei dessen Berührung er Jane jemals aufgeregt gesehen.

„Sie haben irgend eine Notiz über unsere Angelegenheit gefunden?“ fragte er rasch. „Eine neue Spur?“

Jane war ihrer Erregung bereits wieder vollkommen Herr geworden, sie legte ruhig das Blatt nieder. „Nichts dergleichen! durchaus nichts! Ich hoffte im Gegentheil, Sie würden mir eine Nachricht darüber bringen.“

Er zuckte die Achseln. „Noch habe ich keine erhalten und auch nicht erwartet. Die Behörden haben augenblicklich weder Zeit noch Lust, sich mit Privatrecherchen abzugeben, es möchte ihnen auch schwer werden, jetzt, wo kein Mensch und kein Ding mehr an seinem Platze ist. Eine Reise unsererseits würde vollends nichts nützen, ganz abgesehen von der Unmöglichkeit jetzt vorwärts zu kommen, wir wissen ja nicht einmal, wohin sich die Reise zu richten haben würde. Es kann Wochen dauern, bis überhaupt eine Antwort kommt, wir müssen eben warten.“

„Warten!“ sagte Jane heftig, „immer warten! Und inzwischen verliert sich die kaum gefundene Spur von neuem. Ach, daß jene Fischersleute sterben mußten!“

„War das größte Glück für Sie und den jungen Mr. Forest!“ ergänzte Atkins trocken, „denn das allein entriß ihn dem Kreise, in den ein unglücklicher Zufall ihn geworfen. Wir wissen allerdings nicht, in welcher Eigenschaft er in das Haus jenes Geistlichen kam, hoffentlich als Pflegesohn, und hoffentlich hat man dort das Versäumte nachgeholt. Im anderen Falle könnte sich das gehoffte Wiedersehen sehr peinlich gestalten, oder wäre es Ihnen gleichgültig, Jane, Ihren nächsten Blutsverwandten in jener ersten Sphäre aufsuchen zu müssen?“

Die junge Dame schwieg betroffen; daß sie den Bruder arm wiederfinden könne, daran mochte sie öfter gedacht haben, niedrig – der Gedanke war ihr augenscheinlich noch niemals gekommen, und er gewann auch kaum einen Moment lang Gewalt über sie, dann empörte sich ihr ganzer Hochmuth dagegen.

„Mein Bruder hat das Blut des Vaters in seinen Adern, das erträgt keine Niedrigkeit! Wenn er noch lebt, so hat auch er sich über jede seiner unwürdige Sphäre hinausgeschwungen. Das weiß ich!“

„Ohne richtig Lesen und Schreiben gelernt zu haben? Hm! Sie vergessen, daß dem Mr. Forest bei allem, was er unternahm, die Erziehung zur Seite stand. Ein Student, der seine Bildung auf einer deutschen Hochschule empfing, ist so ziemlich jeder Lebensstellung gewachsen. Ein Fischerjunge – nun, ich hoffe, der treffliche geistliche Herr hat uns der Sorge enthoben, aber der so plötzlich ausgebrochen Krieg spielt uns nichts desto weniger einen argen Streich, er bringt die ganze Angelegenheit in’s Stocken.“

Mit einem Seufzer der Ungeduld nahm Jane ihren Platz wieder ein, während Atkins zum Tische trat und das Blatt ergriff, bei dem er sie vorhin gefunden.

„Ah, die Zeitung! Haben Sie den ‚Aufruf an das deutsche Volk‘ gelesen, der an der Spitze des Blattes steht?“

„Ja!“ klang es zögernd, wie mit innerem Widerstreben von Jane’s ’Lippen.

„Ein seltsames Machwerk!“ sagte Atkins halb spottend und halb mit einem bei ihm seltenen Ernst. „Ich begreife nur nicht, wie ein Mensch eine so unsinnige Menge von Poesie in die Prosa eines Zeitungsartikels legen kann. Er hat jedenfalls irgend einen Dichter zum Verfasser, und einer von den schlechtesten ist es gerade nicht gewesen! Ein bloßer Journalist hat das sicher nicht geschrieben, dazu ist es denn doch zu –“

„Genial!“ vollendete Jane, wieder mit dem früheren seltsamen Aufflammen ihrer dunklen Augen.

„Ja, das heißt überspannt! Nun, die deutsche Genialität ist das immer! Schwung und Feuer hat das Ding übrigens, das muß man ihm lassen, und bei der ohnehin bis zum Siedepunkt gestiegenen Begeisterung von B. wirkt es vollends wie ein Funke im Pulverfaß. Die halbe Stadt hat bereits den Kopf darüber verloren, in der Universität reißt man sich um die einzelnen Exemplare, die Worte zünden überall wie die Brandraketen. Mich soll nur wundern, wie lange das ganze Brillantfeuerwerk überhaupt vorhält!“

Jane blickte mit leisem Hohne zu ihm hinüber. „Ihnen bringt es doch wenigstens Abwechselung,“ sagte sie nicht ohne Ironie. „Sie fanden ja Deutschland so über alle Begriffe langweilig.“

„Ja, das fand ich!“ grollte Atkins, „aber jetzt wollte ich lieber die frühere Langeweile ertragen, statt inmitten eines toll gewordenen Volkes zu sitzen, dem das einzige Lobenswerthe, die frühere Demuth und Bescheidenheit, völlig abhanden gekommen ist. Glauben Sie, daß man die Ausländer noch respectirt, daß man sich überhaupt noch um sie kümmert? In meinem Hôtel werde ich auf’s Elendeste vernachlässigt, alle Sorgfalt und Aufmerksamkeit ist einzig für die deutschen Officiere da; auf der Straße, bei Begegnungen, im Gespräche wird mir stündlich meine unendliche Ueberflüssigkeit unter den Herren Germanen kund gethan; der liebenswürdige Mr. Friedrich findet es gar nicht mehr nöthig, seiner Bärennatur noch einen Zügel anzulegen, und scheint täglich größeren Appetit zu verspüren, mich zum Frühstück zu verzehren. Sogar die gute Mrs. Stephan beginnt sich zu fühlen! Hat sie Ihnen nicht gestern eine förmliche Malice gesagt, als Sie sich weigerten, sich zu ihrem patriotischen Comité pressen zu lassen? Hätte sie das jemals früher gewagt? Man rebellirt auch gegen Sie, Jane, Sie sehen es ja. Erbin! Amerikaner! Engländer! Das gilt ihnen Alles nichts, seit sie unter sich einig geworden sind. Sie brauchen nichts mehr von alledem, sie sind ja deutsch geworden!“

Eine dunkle Röthe war bei den letzten Worten langsam in Jane’s Antlitz aufgestiegen, aber sie sah nicht auf.

„Ich habe meiner Tante erklärt, daß, sobald es Gefahr und Noth zu lindern giebt, ich an meinem Platze sein werde, daß ich aber die begeisterten Demonstrationen, in denen die Damen sich jetzt gefallen, sehr unnöthig und überflüssig finde.“

„Recht so!“ sagte Atkins heftig. „Halten Sie wenigstens Stand! Geben Sie ihr nicht nach, keinen Fußbreit! – Und nun hören Sie nur diesen Lärm an der Hausglocke! Ich wette darauf, das ist auch wieder ein neu erwachtes Nationalbewußtsein, das vor acht Tagen noch ganz bescheiden die Klingel zog und sich jetzt natürlich mit diesem Sturmläuten einführt!“

Die Malice des Amerikaners hatte sich diesmal gegen seinen Wirth gerichtet; es war Doctor Stephan, der jetzt die Thür öffnete und ziemlich heftig eintrat.

„Nun so soll doch gleich –! Ah, Verzeihung, ich wußte nicht, daß Jemand hier sei. Aber dreimal habe ich schellen müssen, ehe die Magd sich aus der Küche herbemühte. Sobald der Friedrich nicht im Hause ist, geht Alles verkehrt!“

„Auch ich habe bereits diesen ausgezeichneten Pförtner vermißt!“ sagte Atkins nach der ersten Begrüßung mit jener außerordentlichen Höflichkeit, die bei ihm stets eine Bosheit barg. „Jedenfalls darf man dem preußischen Heere zu dieser Acquisition Glück wünschen?“

„Ja, Friedrich hat Ordre empfangen,“ sagte der Doctor mit einem unterdrückten Seufzer. „Er ist bereits gestern nach H. hinübergefahren, wird aber wohl noch einmal zurückkommen. Der Professor ist gleichfalls hinüber.“

„Mr. Fernow? Was hat denn er in H. zu thun?“

„Er muß sich gleichfalls zur Untersuchung stellen, der Form wegen, die wird in solcher Zeit nicht leicht Jemandem erspart. Bei ihm bleibt die Sache natürlich nur Formalität, aber der Friedrich wird uns fehlen! Wir behelfen uns zur Noth noch ohne ihn, aber wie der Professor, den er so verwöhnt und gepflegt hat, mit einem anderen Diener fertig werden soll, das weiß der Himmel!“

Damit trat der Doctor zu seiner Nichte, die völlig theilnahmlos bei dem Gespräch die Zeitung wieder aufgenommen hatte, und sah ihr über die Schulter in das Blatt.

„Ich glaube, Sie trauen dem Mr. Fernow allzuviel Interesse für die ungelehrte Wirklichkeit zu,“ spottete Atkins. „Er wird hinter seinem Schreibtisch und seinen Folianten den Wechsel der Bedienung so wenig merken, wie er von dem ganzen Kriege etwas gemerkt hätte, wäre nicht die gezwungene Reise nach H. gewesen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 295. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_295.jpg&oldid=- (Version vom 1.10.2017)