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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


hinunterzustürzen drohte. Geblendet vom Schnee und überwältigt vom plötzlichen Anfalle, wollte ich, mich niederwerfend, einen Augenblick Halt machen; doch die Führer, die Gefahr ahnend, verstanden hier keinen Spaß. Mit herculischen Kräften griffen sie uns, das Seil spannte sich stramm wie eine Saite, und von ihnen gezogen, flog ich, fast ohne zu wissen, wie mir geschah, im Schlepptau die steile Firnhalde hinauf; – wir waren auf der Adlersruhe 10,932 Fuß ü. M. Hier aber erfaßte uns der Nordoststurm mit voller Gewalt, so daß es selbst den gewandten und abgehärteten Führern zu arg wurde und sie uns nur noch die Worte zuriefen: „Nieder mit den Köpfen!“ Im Augenblicke lag die ganze Schaar, gleich eingeschneiten Schafen, die Köpfe zusammengesteckt, auf den Knieen am Boden. Der Sturm sauste über uns hinaus; Keiner wagte aufzusehen. Es war ein Kraftausdruck, dessen sich die gewaltige Eiswelt gegen uns freche Eindringlinge bediente; es war der letzte Mahnruf, den ungleichen Kampf mit den finsteren Mächten nicht aufzunehmen. Doch verhallte auch diesmal der Donner der eisigen Windsbraut, und mit ihm schwand auch unsere Furcht. Wir schüttelten den auf unsere Leiber hochangewehten Schnee wieder ab und schickten uns an, weiter in die Nacht des nebelumstürmten Glockners vorzudringen. Von der Adlersruhe zieht ein schwachgewölbter, aber ziemlich stark geneigter Firngrath bis unter die Spitze des kleinen Glockners, der gegen Süden in einzelnen Eiswänden abbricht. Bevor der schwere Anstieg über diesen Firngrath begonnen wurde, machten wir ein wenig Halt, was selbst den Führern nicht unerwünscht war, denn auch sie waren von den ausgestandenen Strapazen ziemlich angegriffen.

Das Morgenbrod schmeckte uns nicht, wir waren zu sehr aufgeregt, nur plagte uns gewaltiger Durst; doch war aus meiner etwas erwärmten Feldflasche nur wenig, aus den in den Tragkörben offen daliegenden Flaschen gar kein Wein zu erhalten – Alles war gefroren! Nach einer halben Stunde wurde wieder aufgebrochen; der Wind kam nur mehr stoßweise und machte oft acht bis zehn Minuten lang Pausen, so daß während derselben die schwierigsten Stellen überwunden werden konnten. Aber jetzt begann der schwierigste Theil der Unternehmung. Es galt nämlich die circa drei- bis vierhundert Fuß hohen glatten Eiswände, die sich von der kleinen Glocknerspitze gegen Süden herabsenken, zu übersteigen. Der erste Führer stieg voran, mit außerordentlicher Gewandtheit und Schnelligkeit Stufen in das Eis hauend, während der zweite und dritte Führer, die ihm nachfolgten, mich und den Fremden am Seite nach sich zogen. So gelangten wir ohne weiteren Unfall auf die Spitze des kleinen Glockners. Der Nebel hatte sich zertheilt, der Wind hatte momentan aufgehört, und herrlich entfaltete sich das unendlich großartige Glocknerpanorama.

Fast ahnend, daß von der obersten höchsten Spitze die Rundschau sich nicht mehr in gleichem Maße und so ruhig genießen ließe, wie hier, versuchte ich den gewaltigen Eindruck, den dieses prachtvolle Rundgemälde, mit all’ seinen tausend und aber tausend Spitzen, Jochen, Kämmen, Thälern und Flüssen hervorrufen mußte, in mir zu fixiren und ein getreues Abbild all’ dieser Schönheiten in meiner Seele zu bewahren. Doch konnten wir nicht lange hier verweilen, die Zeit war schon vorgerückt und noch hieß es, das schwerste Stück Arbeit, nämlich die Passage über die sogenannte Scharte zu vollenden. Diese vielgenannte, gefürchtete Scharte ist nichts anderes, als ein circa sechs bis sieben Klafter langer Firngrath, der sich vom Fuße der eigentlichen Glocknerspitze in einem Winkel von vielleicht zwölf Grad gegen den kleinen Glockner herabzieht; sein Scheitel ist dachfirstähnlich, an manchen Stellen sechs bis zehn Zoll, an manchen nur drei Zoll breit. Zu beiden Seiten stürzt er in furchtbaren, ein- bis zweitausend Fuß tiefen Eiswänden östlich zur Pasterze, westlich gegen den Ködnitzgletscher ab. Mag auch die Passage unter gehörigen Vorsichtsmaßregeln nicht gefährlich sein, der Anblick ist jedenfalls schauerlich.

Ohne sich lange zu besinnen, und die Sache als fast alltäglich betrachend, stieg der erste Führer zur Scharte hinab. Alles Entbehrliche, sowie auch die Bergstöcke, wurden hier zurückgelassen. Sodann begann der Führer, am Seile gebunden und – fest gehalten, seine schwindlige Arbeit; er hieb nämlich an der von der Scharte gegen die Pasterze abfallenden Eiswand circa vier Fuß unter dem Grathe breite Stufen in das Eis und stellte sich nach glücklich vollbrachtem Werke am jenseitigen Bord auf, um den zweiten Führer in Empfang zu nehmen.

Als dies geschehen, wurde ich an das Seil gebunden, mit den nöthigen Instructionen versehen, und ohne Furcht oder Beklemmung stieg ich, die Fußeisen fest in die Stufen stoßend und auf die Eisschneide mit dem linken Arme mich stützend, die gefährliche Stelle hinüber. Gleicherweise wurden mein Reisegefährte und die drei anderen Führer hinübergeseilt. Die ganze Passage ist durchaus nicht so arg, als man sich vorstellen möchte; nur die letzte Stelle ist etwas bedenklich. Um nämlich auf das kleine Plateau zu gelangen, das über der Eisschneide sich befindet und zur höchsten Spitze führt, muß man sich auf den scharfen eisigen Grath selbst hinaufschwingen; da sitzt man nun auf einem kaum handbreiten Eisfirste, – zwischen zwei Ländern, den einen Fuß buchstäblich nach Tirol, den andern nach Kärnthen hinabhängend. Aber auch diese Stelle, sowie der letzte Anstieg zur Spitze wurde glücklich, jedoch unter stetem Ankämpfen gegen den neuerdings losbrechenden Nordwind überwunden, und um halb zehn Uhr Morgens standen wir auf der höchsten Spitze des Großglockners. Mein erster Aufschrei der Freude wurde durch den heulenden Sturm fortgetragen, der mark- und beindurchdringend durch die eisige Höhe fegte; dazu kam noch ein dichter Nebel, der uns Alle in seinen feuchtkalten Mantel hüllte und jegliche Aussicht versperrte.

So standen wir heroben nach zehn- bis zwölfstündigem Marsche fast auf der höchsten Eiswarte Oesterreichs, ermattet und abgespannt, zitternd vor Frost und Kälte, ohne auch nur einen Blick in die unendliche Gebirgswelt, die unsichtbar zu unseren Füßen lag, werfen zu können. Schon wollte ich nach fünf bis acht Minuten zum Rückzuge blasen lassen, als plötzlich wie ferner Donner der Sturm in die dichte Nebelmasse fuhr und dieselbe flatternd und fliegend auseinandertrieb. Der schwere Mantel löste sich, und rein blaute über uns der klare Himmel; bis in unabsehbare Fernen reihten sich Gebirge an Gebirge, Thäler an Thäler. Die Aufklärung war so rasch gekommen und der Sturmwind hatte eine so unerwartete Attaque auf uns gemacht, daß wir moralisch und physisch zu Boden kamen und uns auf dem schmalen, geneigten Plateau kaum mehr zu erhalten vermochten. Halb knieend, halb liegend staunte ich nun all’ die Wunder an, die sich meinem Blicke hier aufthaten!

Es ist kein Land des Reizes und Zaubers, das man hier erblickt, nichts schmeichelt den Sinnen, kein befreundeter Ton dringt zum Ohre!

In unmittelbarer Umgebung, und besonders gegen Osten, meilenweite Firnmeere und blendende Schneefelder, von öden, schwarzen Felsmauern und Karrenfeldern umrahmt. Weiter hinaus coulissenartig, in blaue Fernen verschwindend, gewaltige Gebirgsreihen mit Hunderten von Zacken und Spitzen in die klaren Lüfte strebend. Trotz der Reinheit der fernsten Contouren schwebte doch ein geheimnißvolles Dunkel schleierartig über Berg und Höhe. Der Himmel war tief-, fast schwärzlichblau und die Sonne hatte nicht mehr ihren strahlenden Glanz, sondern glich mehr einer Feuerkugel im blaudunklen Raume. Alles verkündet, daß man nicht mehr an freundlichem, dem Menschen zur Stätte angewiesenen Orte weilt, sondern irdischem Behagen entrückt im Reiche der überirdischen Mächte auf der höchsten Zinne des Wundertempels steht! Wer vermöchte den Eindruck zu beschreiben, den dieses unendliche Panorama hervorruft, wer die Spitzen, Joche, Kämme und Zinken zu zählen und zu nennen, die brüderlich sich in- und aneinanderschlingen, und durch weite Länder von Ost nach West, voll Nord nach Süden ziehen? Mit kleineren Gebirgsmassen und ihrer Beobachtung konnte ich mich gar nicht abgeben, denn Wind und Kälte nahmen in zu peinlichem Maße überhand; ich sah nur die Matadoren der Eiswelt, den Montblanc, Monterosa, die Berneroberlandsgruppe, Ortles, Bernina, die gesammte Oetzthaler und Stubaierfernermasse, die badischen, bairischen, würtembergischen und österreichischen Ebenen, die steirischen und bellunesischen Alpen, die Marmolata, den Terglou und die lombardischen Ebenen, und das Alles in voller Klarheit!

Welche Erhabenheit und Größe lag nicht in diesen einfachen Formen und Gebilden von Eis und Fels! O, wäre es mir nur vergönnt gewesen, blos noch eine halbe Stunde auf dieser fesselnden Höhe ruhig und unbeirrt weilen zu können! Doch unseres Bleibens war nicht mehr länger auf der Spitze, wollten wir anders noch glücklich in die Heimath kommen, unsere Glieder zitterten, und die Kräfte nahmen zusehends ab, selbst die Führer beklagten sich bitter über die Kälte, die sie in so hohem Grade hier noch nie gefunden.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 300. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_300.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)