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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Er wollte ihr Hülfe leisten, aber sie wies ihn mit einer heftigen Bewegung zurück.

„Es wird vorübergehen – ich bedarf nichts – nur um ein Glas Wasser bitte ich Sie!“

Atkins war in ernstlicher Unruhe, er wußte sehr wohl, daß Jane keine „Nervenzufälle“ kannte, er fürchtete eine Krankheit, und da jetzt im Hôtel an schnelle Bedienung nicht zu denken war, so eilte er selbst hinaus, das Verlangte zu holen.

Das war es, was Jane beabsichtigt hatte. Sie brauchte kein Wasser, aber sie bedurfte einen Moment des Alleinseins, wollte sie nicht ersticken. Kaum war er hinaus, so eilte auch sie zur Thür, schob den Riegel vor und sank dann erst am Sopha in die Kniee, das Gesicht in den Händen verborgen. Jane Forest brach nicht zusammen vor fremden Augen!

„Wenn man eltern- und heimathlos in’s Leben hinausgeworfen wird und dann in die Hände eines Gelehrten fällt, der nichts kennt und liebt auf der weiten Welt als seine Wissenschaft“ – und jener Brief kam vom Rhein! Das war der Blitz gewesen, der sie vorhin durchzuckte, die Ahnung kam mit der ganzen vernichtenden Gewalt der Gewißheit. Jener Blitz hatte einen Abgrund vor ihr aufgethan, in den Jane es nicht wagte hinabzublicken, hatte ein Geheimniß an’s Licht gerissen, dessen sich die kalte, stolze Braut Alison’s bisher nicht bewußt war; aber als sie jetzt in Todesangst die gerungenen Hände emporhob, da brach es hervor in dem lang zurückgehaltenen Verzweiflungsschrei:

„Allmächtiger Gott, nur dies Eine nicht! Mein Gegner, mein Todfeind, wenn es sein muß, ich will es tragen – nur mein Bruder nicht!“




Die späte Nachmittagssonne eines klaren Septembertages schien durch die dichtbelaubten Aeste der uralten mächtigen Kastanien, welche die Gänge und Rasenflächen des weiten Parkes beschatteten, der sich hinter dem Schlosse S. ausdehnte, einem jener prachtvoll gelegenen Landsitze, an denen das Innere Frankreichs so reich ist. Das Schloß am westlichen Abhange des hier jäh aufsteigenden Gebirges, das gerade an diesem Punkte seine ganze wildromantische Schönheit entfaltet, hatte wie das in unmittelbarer Nähe liegende Dorf gleichen Namens ebenfalls Einquartierung erhalten. Ein rheinisches Landwehrregiment war, nachdem es die sämmtlichen Schlachten des August mitgemacht, hierher zurückbeordert worden, um das Gebirge von den umherstreifenden Franctireurbanden zu säubern und die Pässe desselben frei zu erhalten. Es war ein gefahrvoller und ruheloser Posten für das nicht allzu zahlreiche Detachement, das, stundenweit von seinen Cameraden getrennt, fast täglich Streifzüge in die Berge unternahm und dabei fortwährend vor einem Ueberfall auf der Hut sein mußte, den das Terrain nur allzu sehr begünstigte. Die Mannschaften lagen im Dorfe, während die Officiere sich in dem unmittelbar am Ausgange desselben befindlichen Schlosse, dessen Bewohner natürlich geflohen waren, einquartiert hatten. Die Herren schienen sich, im Augenblick wenigstens, einer hier nur seltenen Muße hinzugeben, von der Terrasse her scholl lautes Plaudern und Lachen, untermischt mit hellem Gläserklingen.

Am Eingange des Parkes unter einer jener mächtigen Kastanien lag ein junger Landwehrofficier ausgestreckt in dem hohen Grase und blickte hinauf in das dunkelgrüne Laubdach, durch welches die schon untergehende Sonne hin und wieder ihre röthlich zuckenden Lichter warf. Die mit großer Kunst und Mühe geordnete Flora des Gartens, der noch in der ganzen Pracht und Ueppigkeit des Sommers prangte, schien seine Aufmerksamkeit ebensowenig zu fesseln wie der Lärm seiner Cameraden, der vom Schlosse zu ihm herüberdrang; er hob den Kopf erst, als der Schritt eines Nahenden ihn aus seiner Träumerei aufschreckte.

Ein Mann von ungefähr dreißig Jahren, den die Uniform und Armbinde als einen Arzt bezeichneten, kam suchend den Gang herauf und blieb endlich vor dem Liegenden stehen.

„Dacht’ ich’s doch! Hier liegst Du wieder und träumst, während ich Dir im Schweiße meines Angesichts die Popularität erringe! Du kümmerst Dich freilich nicht darum!“

Der Angeredete richtete sich zur Hälfte empor, indem er sich leicht auf den Ellenbogen stützte. „Ich habe ja Dienst,“ sagte er ruhig. „Ich muß um vier Uhr in’s Dorf hinunter.“

„Und deshalb warst Du um drei Uhr bereits unsichtbar geworden? Leugne doch nicht, Walther, Du bist davongelaufen, weil Du merktest, daß ich die fürchterliche Absicht hatte, ein Gedicht vorzulesen, dessen Abschrift ich Dir wieder einmal habe abzwingen müssen. Uebrigens nützt Dir die Flucht wenig; Du wirst bei der Rückkehr dennoch mit allgemeiner Acclamation empfangen werden. Unser Major flucht seinen ganzen unerschöpflichen Vorrath von Flüchen der Reihe nach herunter, um nachdrücklichst zu bekräftigen, daß er so etwas in seinem Leben noch nicht gehört; der Adjutant hielt eine um so zartere Rede; Du weißt, er ist so eine Art Schöngeist, macht selbst stark in Aesthetik, und Du hast ihm mit Deiner Gelehrsamkeit gleich von Anfang an bedeutend imponirt. Er führte uns zu Gemüthe, wie hochbegnadet wir doch eigentlich vom Schicksal seien, uns die Waffengefährten eines Dichters nennen zu dürfen, den Deutschland dereinst als seinen ersten Genius begrüßen wird, eine ausgezeichnete Rede, nur etwas zu lang! Die Lieutenants schwören bei allen Göttern der Ober- und Unterwelt, wenn die Franzosen einen Barden besäßen, der sie vor der Schlacht mit ähnlichen Gesängen begeisterte, so hätten sie uns mehr zu schaffen gemacht; den großartigsten Effect aber hat Deine Poesie auf den dicken Hauptmann hervorgebracht – er hat das Trinken darüber vergessen!“

„Laß doch die Possen!“ sagte der junge Officier halb unwillig, indem er in seine liegende Stellung zurücksank.

„Possen? Ich gebe Dir mein Wort, daß ich Dir das Gesagte nur buchstäblich wiederhole. Hörst Du den Gläserklang? Das gesammte Officiercorps garantirt Dir soeben feierlichst die Unsterblichkeit. Ich bin abgesandt, auf den flüchtigen Sänger zu fahnden und ihn lebend oder todt zur Stelle zu schaffen. Man verlangt stürmisch Deine Gegenwart.“

„Verschone mich! Du weißt, wie sehr mir dergleichen Ovationen zuwider sind.“

„Du willst wieder nicht kommen? Natürlich! Wir sollten uns nun nachgerade daran gewöhnt haben, daß Lieutenant Fernow nur zu haben ist, wenn es zum Dienst oder in’s Gefecht geht. Du läufst vor jeder Anerkennung davon wie Andere vor der Strafe; das mußt Du Dir noch abgewöhnen, Walther; es paßt wirklich nicht für den ‚künftigen Genius Deutschlands‘.“

Fernow war inzwischen aufgestanden, hatte den Helm, der neben ihm im Grase lag, aufgesetzt und schnallte jetzt den Degen fester. Wer noch vor zwei Monaten den gelehrten Professor der Universität B. gesehen, der hätte ihn freilich nicht wieder erkannt in diesem jungen Krieger, dem der Waffenrock so knapp und fest um die schlanken Glieder schloß, als habe er sein Lebelang nichts anderes getragen. Fort war die krankhafte Blässe und die tiefen dunklen Ringe um die Augen, fort war der gebückte Gang und das ganze leidende Aussehen. Dunkler Sonnenbrand lag jetzt auf Stirn und Wangen, in denen das Blut kräftiger pulsirte, das blonde Haar quoll, wenig gepflegt, in üppigerer Fülle unter dem Helme hervor, der sonst streng verbannte Bart sproßte kräftig um das Kinn, die aufrechte mititärische Haltung kostete dem nunmehrigen Landwehrlieutenant augenscheinlich nicht die geringste Mühe mehr, und die Hände, die freilich ihre ganze Zartheit eingebüßt hatten, faßten dafür mit um so kräftigerem Griffe den Degen. Die sechs Wochen im Felde hatten Wunder gethan, man sah es auf den ersten Blick – die Radicalcur des Doctor Stephan hatte angeschlagen.

„Ihr legt allesammt meinen Liedern zu viel Werth bei!“ sagte er ablehnend. „Die Verse, die die Begeisterung des Augenblicks schufen, zünden auch im Augenblick, und später, wenn die Bewegung endigt, die sie gebar, fallen sie der Vergessenheit anheim. “

„Meinst Du?“ fragte der Arzt ernster werdend. „Das erlaube ich mir denn doch zu bezweifeln. In Deinen Liedern braust mehr als bloßer Schlachtenlärm, wenn Du ihm vielleicht auch einst dankbar sein wirst, daß er Dein Talent aus seinem Schlummer aufrüttelte und Dir die Bahn wies zu künftiger Größe.“

„Vielleicht!“ sagte Fernow düster. „Und vielleicht auch macht eine Kugel heut oder morgen der ganzen Herrlichkeit ein Ende!“

„Kannst Du denn die ewige Schwermuth nicht loswerden?“ schalt der Doctor. „Walther, ich glaube wahrhaftig, Du trägst irgend eine unglückliche Liebe mit Dir herum.“

„Warum nicht gar!“ rief Fernow heftig, indem er sich abwandte. Die dunkle Röthe, welche früher schon sein bleiches Gesicht bei jeder heftigen Erregung überfluthet hatte, stieg auch jetzt wieder, wenngleich weniger sichtbar, in das gebräunte Antlitz.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 327. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_327.jpg&oldid=- (Version vom 1.10.2017)