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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

geschehen. Es ist ein Manöver, die Sinne zu kitzeln, das unter dem Deckmäntelchen einer Kunst mit hoher obrigkeitlicher Bewilligung sein unverhülltes Spiel treibt.

Die Herren Balletmeister und Solistinnen werden allerdings Anathema über uns rufen oder in dritter Position die Nase rümpfen, aber das ändert nichts an der Sache und unserer Ansicht. Etwas Rührendes hat immer ein alter Tänzer, der auf seine letzten Tage noch in eine Löwen- oder Tigerhaut kriechen muß und höchstens zum Samiel im „Freischütz“ verwendet wird.

Noch tiefer aber ergreift uns der Anblick des unglücklichen „Theaterkindes“, das als Genius mit Flügeln und goldflitterndem Kleide hoch über der Bühne an einem Drahtseile schwebt und mit Hülfe starkaufgetragener Schminke und mit lächelndem Gesicht die blühendste Gesundheit heuchelt, während der Wurm schon längst im Kelch der Blume nagt.

Das Loos des Garderobiers und Requisiteurs ist ebenfalls kein beneidenswerthes. Jener streitet sich Jahr aus Jahr ein mit den Menschendarstellern herum, die immer in den prächtigsten Costümen umherstolziren wollen, dieser verbringt wie ein Dachs im Bau den größten Theil seines Lebens in einer dunkeln Kammer unter pappenen Schinken, Schwertern, Dokumenten mit ungeheuren Siegeln, Regenschirmen, Briefen und leeren Briefcouverts. Sein höchster Stolz ist ein echtes Schwert Wallenstein’s, das er direct von Schloß Friedland bezogen hat, das aber natürlich auch, wie Alles am Theater, unecht ist.

Wir schließen unsere Blicke hinter die Coulissen mit zwei Erscheinungen, die nicht direct, aber sehr indirect mit denselben in Verbindung stehen. Dem dramatischen Dichter von heute ist, mit wenig rühmenswerthen Ausnahmen, Schiller ein längst überwundener Standpunkt. Nach jedem noch so mittelmäßigen Erfolg geht er zur Stärkung seiner angegriffenen Gesundheit und Belebung seiner angegriffenen Phantasie regelmäßig in ein Bad und kehrt nach sechs Wochen vollständig gekräftigt und zu neuem künstlerischen Schaffen angeregt zurück, was zwar nicht mit Kanonensalven, aber unbeeinflußten Zeitungsartikeln dem europäischen Publicum angekündigt wird. Will ihn ein Bildhauer modelliren, so muß dies in ganzer Figur sein, Büste wäre gemein und gewöhnlich.

Wird er nach einem glänzenden Erfolge „hervorgejubelt“, so geschieht dies so oft, daß er zuletzt um die Dauerhaftigkeit seiner Stiefelsohlen besorgt werden muß, und der rasenden Menge nur noch durch den Regisseur seinen Dank stammeln läßt. Er debütirt gewöhnlich mit einem Stück, das mindestens tausend Jahre vor Christus spielt, und fällt gewöhnlich damit durch, weil er nicht begreift, daß die materielle Jetztzeit wenig Sympathie für dramatische Vorwürfe und Situationen aus der Stein- oder Bronzeperiode hat, ausgenommen sie werden behandelt von einem Dichter ersten Ranges. Es geht ihm genau damit wie manchen Historienmalern, die mit ihren Stoffen auch nur in die graue Vorzeit zurückgreifen um ihre Gedankenarmuth und den Mangel an jeglicher Charakterisirung hinter historischem Faltenwurf und trockenem (nach ihrer Meinung „tief empfundenes, tief kindliches“) Nazarenerthum zu verstecken.

Es giebt eine gewisse Sorte kleiner Fahrzeuge, die leicht umschlagen und den darin Sitzenden in die Fluthen stürzen und begraben, wenn eben keine rettende Hand naht. Sie heißen einfach „Seelenverkäufer“. Aber es giebt auch eine gewisse Sorte Theateragenten, die der Theatervolksmund ebenso getauft hat, und die kühn über ihre Thür die Worte aus Dante’s „Hölle“ schreiben können: „Wer hier eingeht, lasse die Hoffnung draußen!“ Der Theateragent verdankt seinen Ursprung der Bequemlichkeitsliebe der Herren Theaterdirectoren, die, anstatt selbst zu sehen, zu hören und zu prüfen, sich einfach ihren Bedarf verschreiben lassen. Daher die vielen verfehlten Gastspiele und Engagements, unter deren Streichen das arme gequälte Publicum so oft bluten muß. Der Theateragent ist nicht mehr der kleine gebückte Jude von ehemals mit abgeschabtem Rocke und fettigem Hute; er ist ein stolzer vornehmer Herr, oft mit fürstlichem Hausstand, Livréedienern und Equipage. Er zeigt weltmännische Bonhomie oder giebt sich das Ansehen eines strengfinstern Biedermannes, der nur für das Wohl seiner Pfleglinge besorgt ist, indem er keck-vertraulich die plumpen dicken Finger auf die weiße Schulter einer dringend empfohlenen Kunstjüngerin legt und dabei wie ein Prediger von der Kanzel spricht. Er nimmt mäßigen Anteil an der Kunst selbst, aber dafür hohe Procente für Gastspiel- oder Engagementsabschlüsse, er giebt ein Blatt heraus, das seine Unterthanen oder Leibeigenen halten und sehr theuer bezahlen müssen, er liegt wie ein Cerberus vor den Thüren der Theaterexpeditionen und wehe Dem, der ohne seine Vermittelung zu einem Gastspiel oder einem Engagement gelangen will! Zuweilen giebt er eine große Fête, bei der die ersten künstlerischen Kräfte ihre Mitwirkung nicht versagen dürfen, und fließt dann der Champagner und man interpellirt mit dem landläufigen „Ach, das ist wirklich zu viel!“ so sagt der gemüthliche Gastgeber lachend: „Laßt es gut sein, Kinder, Ihr müßt es doch bezahlen!“

Der Vorhang falle. Und schienen Diesem oder Jenem unsere Betrachtungen hier und da zu wenig geschminkt, so geschah dies allein um den Preis der Wahrhaftigkeit, die uns bei dem wichtigen Thema von Anfang bis Ende leitete. Uebrigens motivirte noch kürzlich ein hochberühmter Schauspieler, dem das deutsche Publicum seine Achtung als Künstler wie als Mensch nie versagen wird, sein Ausscheiden von der Bühne damit: daß die Misère des heutigen Bühnentreibens mit seinen Ansichten über die Bedeutung des Theaters im Staat zu wenig harmonire.


Die Krankheiten des Haupthaares und ihre ärztliche Behandlung.[1]
Vom Stabsarzt Dr. J. Pincus, Docent an der Universität zu Berlin.

„Hülfe, Herr Doctor! Hülfe! Sie haben in Ihrem Aufsatz über den Haarschwund uns mitgetheilt, was die ärztliche Wissenschaft ergründet hat. Wir sind keine Barbaren und wir erfreuen uns daher an den Fortschritten der Wissenschaft an und für sich. Aber wir denken: das Wissen ist doch nicht immer das höchste Ziel, es soll oft ja nur die Vorstufe des Könnens sein! Und außerdem und ganz persönlich und ein ganz klein wenig egoistisch gesprochen (Sie lächeln? Sie tadeln uns doch nicht?): wir haben eine kleine Glatze, oder wir haben Grund zur Besorgniß, sie möchte kommen – also kurz herausgefragt: was vermag die ärztliche Kunst?“

Ich lache Sie nicht aus, meine verehrte Dame ober mein verehrter Herr, und ich schelte Sie nicht eitel! Und was meine Arbeit betrifft, so wissen Sie: die höchsten Entdeckungen sind den edlen Geistern vergönnt gewesen, die nach Wahrheit suchten nur um der Wahrheit willen, ohne Rücksicht auf die Lösung eines praktischen Problems – aber wir kleineren Götter, an die die Noth des Menschen in verschiedener Gestalt täglich so nah herantritt, wir praktischen Aerzte, wir vergessen der praktischen Probleme nicht. Vollends ich nicht, der ich durch mein eigenes Leiden vor vielen Jahren zu dieser Specialität geführt worden bin. Ich lächelte nur, weil es schien, als scheuten Sie sich, unbefangen über Ihr kleines Leiden zu sprechen; als fürchteten Sie, ich möchte Sie für tadelnswerth eitel halten, weil Sie von Ihrem Leiden befreit sein wollten. Keineswegs tadle ich Sie! Aber diese Scheu findet sich so häufig und verleitet die Patienten, an unrechter Stelle Hülfe zu suchen. Nun zur Sache! Was ich vermag, thue ich gern. Wie zeigt sich denn Ihr Haarleiden?

„Ich hatte ursprünglich reiches und kräftiges Haar, von hübschem Glanz, so daß ich nur selten etwas Oel oder Pomade zu nehmen

  1. Den massenhaften Anfragen, welche uns in Folge des Artikels „Vom Haarschwund“ in Nr. 17 der Gartenlaube, theilweise zur weiteren Bestellung an Dr. Pincus, zugegangen sind, und die wir unmöglich alle direct beantworten konnten, glaubten wir nicht besser zu begegnen, als durch eine Aufforderung an den Verfasser, das einmal angeregte Thema, namentlich aber das Capitel von der eigentlichen ärztlichen Behandlung der Haarkrankheiten noch eingehender und ausführlicher zu behandeln. Wir freuen uns, den Wünschen so vieler unserer Leser auf solche Weise heute schon entsprechen zu können: ein weiterer, dritter Artikel wird der Zusage des Verfassers gemäß demnächst folgen.
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 395. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_395.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)