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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


dem, wie man wußte, die Officiere einquartiert waren, möglichst geräuschlos zu überfallen, um die im Dorfe liegenden Mannschaften führerlos dem Angriffe der Hauptmacht preiszugeben, der allen Anzeichen nach von der andern Seite her beabsichtigt war. Der zu früh ausgebrochene Alarm hatte jenen Plan vereitelt, der Angriff erfolgte nicht, und das Handgemenge an der Grotte konnte daher auch nur ein kurzes sein. Einige Franctireurs waren gefallen, ein halbes Dutzend gefangen, die anderen stoben in wilder Flucht in den Wald zurück. Bei dieser Gelegenheit ward auch der geheime Ausgang dorthin entdeckt und besetzt; auch von den Deutschen waren Einige mehr oder weniger schwer verwundet, tödtlich keiner, Friedrich war das einzige Opfer.

Man hatte ihn in Jane’s Zimmer getragen und auf das dort befindliche Bett niedergelegt. Sie saß an seiner Seite, ihre eigene Verwundung hatte sich als ein unbedeutender Streifschuß herausgestellt, der sie allerdings am Auftreten hinderte und ihr die Flucht unmöglich gemacht hätte, sonst aber gefahrlos war. Doctor Behrend verzichtete, nachdem er den Verband angelegt, auf jede weitere Maßregel, er sah, daß sie jetzt nicht in der Stimmung war, eine solche Wunde zu beachten.

Am Fenster des Gemaches stand Atkins und betrachtete schweigend die Gruppe. Jane hatte ihn in fliegender Hast von dem Vorgefallenen unterrichtet, und aus den Zügen des Amerikaners waren der Spott und Sarkasmus verschwunden, ein tiefer Ernst war jetzt allein darin sichtbar. Da lag der so lange und schmerzlich Gesuchte, für dessen Auffinden die Eltern Reichthümer geopfert hätten, dem die Schwester gefolgt war über’s Meer, durch die ganze Heimath bis hierher. Er war ihnen so nahe gewesen wochenlang, und sie hatten Beide so vornehm auf ihn herabgeblickt, hatten den armen Burschen mit Hochmuth und Hohn gekränkt und hatten ihn verspottet, wo sie nur gewußt und gekonnt. Freilich, ihm war nichts von allen jenen reichen Schätzen des Wissens und der Bildung zu Theil geworden, welche die Jugend seiner Schwester überströmt hatten; arm und unwissend, in elender Dienstbarkeit war der Erbe einer Million aufgewachsen und herumgestoßen worden im Leben, bis er endlich einen gütigen Herrn fand, und die Stunde, welche zuletzt die Wahrheit enthüllte, welche ihn dem Reichthum, der Zukunft zurückgab, sie war auch seine Todesstunde.

Doctor Behrend, den einige Worte Atkins’ von dem Zusammenhange unterrichtet hatten, vermochte keine Hoffnung zu geben. Die Wunde war unbedingt tödtlich, vielleicht wäre sie es nicht gewesen, hätte Friedrich, als er die Kugel empfing, sich sofort und allein in’s Gebüsch gerettet; aber die furchtbare Anstrengung, mit der er Jane noch die ganze Strecke getragen, wurde verhängnißvoll, es war eine innere Verblutung eingetreten, er hatte nur noch kurze Zeit zu leben.

Der Verwundete hatte bisher in tiefer Ohnmacht gelegen, jetzt regte er sich und schlug die Augen auf, sie hafteten zunächst auf dem Arzte, der am Fußende des Bettes stand.

„Es geht wohl zu Ende mit mir, Herr Doctor?“ fragte er matt.

Doctor Behrend trat zu ihm, er wechselte einen Blick mit Jane, ihr Auge verbot ihm die Antwort.

„Das nicht, Friedrich, aber Sie sind schwer verwundet.“

Friedrich war bei vollster Besinnung, er hatte sehr gut den Blick gesehen. „Sie können es mir immer sagen, ich habe keine Furcht davor. Mein Herr“ – er wandte das Auge fragend zu Jane, „sagten Sie nicht, Miß, mein Herr wäre verloren?“

Jane verbarg das Gesicht in den Händen, sie litt eine doppelte Folter, die Bewachung verdoppelt, sie selbst unfähig, einen Schritt vorwärts zu thun, vor ihr der sterbende Bruder, und vielleicht fiel in diesem Augenblick auch Walther, sie vermochte nichts mehr dagegen, sie wich dem Unmöglichen.

Friedrich verstand die stumme Antwort. „Dann mag ich auch nicht mehr leben!“ sagte er ruhig, aber mit vollster Entschiedenheit. „Ich habe es gewußt, als er Abschied von mir nahm, und ich hätte es ohne ihn doch nicht ausgehalten!“

Er schloß wieder die Augen und lag bewegungslos wie vorhin, der Arzt trat zu Jane und beugte sich flüsternd zu ihr nieder.

„Ich kann Ihnen den Trost geben, daß das Unvermeidliche sich ruhig und fast schmerzlos vollziehen wird. Wenn Sie ihm aber noch etwas mitzutheilen haben – eilen Sie.“

Er verließ das Zimmer, um nach den übrigen Verwundeten zu sehen, auf ein leises Wort Jane’s zog sich auch Atkins in das anstoßende Gemach zurück, Bruder und Schwester waren jetzt allein.

Sie beugte sich über ihn, sein Gesicht hatte wieder ganz den gewöhnlichen Ausdruck, nur daß es jetzt matt und todtenbleich erschien; er schien in der That kaum zu leiden, jener erst in der Todesgefahr aufflammende Zug war verschwunden und die Aehnlichkeit mit ihm. Sie fühlte, daß sie vorsichtig zu Werke gehen müsse, sollte der schwache Lebensfaden nicht allzu jäh zerrissen und ihm ein letzter Schmerz statt einer letzten Freude bereitet werden. Sie hatte die Kraft dazu. Es gab nur ein Wesen auf der ganzen Welt, das im Stande war, Jane die Selbstbeherrschung zu rauben. Auch am Sterbebett des Bruders behauptete sie ihr Recht, aber ihr Entschluß war gefaßt, er sollte nicht scheiden ohne den letzten Kuß der Schwester.

„Fritz!“

Er öffnete wieder die Augen, betroffen durch die seltsame Anrede, aber es schien eine wehmüthig freundliche Erinnerung zu sein, die der Name in ihm erweckte, dieser Name, den Jane so sehr gezittert, von Walther’s Lippen zu hören; sie beugte sich nieder und nahm sanft die Hände des Verwundeten in die ihrigen.

„Sie haben mir vorhin von Ihrer Jugend gesprochen. Erinnern Sie sich gar nicht mehr der Eltern? der wirklichen, meine ich!“

Friedrich schüttelte den Kopf. „Nur wenig! Ich weiß noch von dem großen Schiffe, auf das wir gehen wollten, und wie der Vater mich losließ und der Mutter nachschickte, wie dann auf einmal Vater und Mutter fort waren, und ich allein stand, in einer engen Gasse, unter vielen Menschen. Ich mag wohl arg geschrieen und geweint haben, denn ich wurde erst ruhig, als mich der alte Erdmann auf den Arm nahm und zu seiner Frau brachte; das ist Alles, was ich weiß.“

„Und haben Sie niemals wieder von den Eltern gehört?“

„Nie! Sie werden wohl gestorben sein drüben in Amerika, oder sie haben mich vergessen. Nach mir hat Niemand gefragt mein Lebelang – außer meinem Herrn.“

Jane faßte seine Hand fester. „Die Eltern haben Sie nicht vergessen, Fritz, sie haben nach Ihnen gefragt und sich schmerzlich genug um Sie gekümmert, jahrelang, sie hätten gern allen Reichthum und alles Glück hingegeben, um nur ihr Kind wieder zu haben, aber es blieb verschwunden.“

In Friedrich’s Zügen zeigte sich eine tiefe Unruhe, er machte einen Versuch, sich aufzurichten.

„Kannten Sie denn meine Eltern, Miß? Sind Sie ihnen begegnet drüben in Amerika?“

„Sie sind todt!“ sagte Jane schwer.

Friedrich’s Haupt sank matt auf das Kissen zurück. „Ich dachte es mir!“

Sie beugte sich noch tiefer auf ihn nieder, ihr Athem streifte seine Wange, und ihre Stimme sank zum Flüstern herab.

„Als die Mutter zum Schiffe ging, da war sie nicht allein, sie trug ein Kind auf dem Arme. Erinnern Sie sich noch dessen?“

Ein schwaches, aber freundliches Lächeln zuckte um seine Lippen. „Ja, meine kleine Schwester, unser Hannchen! Sie muß noch sehr klein gewesen sein damals, erst wenig Wochen alt, aber ich hatte sie doch schon lieb.“

„Und diese Schwester“ – Jane mußte innehalten, die Stimme versagte ihr, „würde es Dir Freude machen sie zu sehen? Soll ich sie Dir zeigen?“

Friedrich blickte sie an in ahnender Erwartung, ihr Auge, ihr Ton verrieth ihm bereits die Wahrheit.

„Miß – Sie –?“

„Mein Fritz! Mein Bruder!“ brach Jane jetzt leidenschaftlich aus und sank am Bett auf die Kniee nieder, ohne den Schmerz ihrer Wunde zu achten, sie fühlte ihn nicht in diesem Augenblick.

Aber der Eindruck dieser Entdeckung war anders, als sie gedacht. Die leidenschaftliche Erregung, die sie trotz alledem gefürchtet, kam nicht, Friedrich lag ruhig wie vorhin und blickte sie an; aber es lag etwas wie Aengstlichkeit, wie Scheu in diesem Blick, und jetzt zog er leise seine Hand aus der ihrigen und wandte den Kopf zur Seite.

„Fritz!“ Jane’s Stimme klang befremdet und erschreckt. „Willst Du Deine Schwester nicht ansehen? Zweifelst Du, an meinen Worten?“

Eine eigenthümliche, halb schmerzliche und halb bittere Bewegung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 406. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_406.jpg&oldid=- (Version vom 1.10.2017)