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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Das Dankgefühl der Eltern kannte keine Grenzen; sie erschöpften sich in Aufmerksamkeiten, und als ich des nächsten Tages, am Tage der Schacht von Mars la Tour, abfuhr, fand ich im Wagen noch eine Flasche Champagner vor, die uns nach dem heißen Schlachttage im Bivouacquartier von Buxières vortrefflich mundete. Natürlich wurde ich beim Abschied auf das Dringendste eingeladen, die Familie Houillot doch nicht zu vergessen, wenn der Zufall mich Pont à Mousson wieder näher brächte. Und ich war auch[1] so unvorsichtig, dieser Einladung Folge zu leisten.

Die turbulente, unseren Lesern aus einem früheren Berichte bekannte Nacht nach der Schlacht von Mars la Tour verbrachten wir in dem Weinorte Thiaucourt. Wir bivouakirten dann zwischen den beiden Schlachttagen, am 16. bis 18. August, in dem elenden Orte Buxières, in der nächsten Nähe des Schlachtfeldes. Der Meister desselben, Prinz Friedrich Karl, hatte nach dem Siegestage die Nacht unter freiem Himmel zugebracht, auch am folgenden Tage fast kaum eine Stelle finden können, wo er sein müdes Haupt niederlegen konnte. Ein einziges Haus bot ein nothdürftiges Unterkommen, und die holde landschaftliche Umgebung desselben war ein Berg aus Dünger, der im Scheine der Augustsonne gar liebliche Düfte entsandte. Hier vor dem Hause auf einem Stuhle sitzend, empfing der Feldherr die Meldungen und gab die Dispositionen für den achtzehnten August.

Weiter campirten wir vom 19. August, vom Tage der Einschließung von Metz an, bis zum 7. September auf dem Schlachtenplateau. O Doncourt und Malancourt, stolze Namensklänge, die an elende Nester verschwendet sind, eure Namen werden mir im ewigen Gedächtniß bleiben. Ich muß an euch denken, wenn ich die blauen Flecken meines Leibes betrachte, die ich mir auf euren Strohlagern, auf euren sogenannten Federmatratzen geholt habe, an denen alle Drähte losgegangen waren; ich muß an euch denken, wenn ich sauren Wein trinke, unsaubere Räume und isabellenfarbige Wäsche sehe, wenn ich gewisse sechsbeinige Quälgeister vergrößert in physiologischen Werken sehe; ich muß an euch denken, wenn ich von dem goldenen Tage von Pont-à-Mousson spreche und den Fleischtöpfen im Houillot’schen Hause. Wenn man sich in diesen Dörfern am Morgen begegnete, so wünschte man sich nicht mehr Guten Morgen, nein, an die Stelle des Grußes war die Frage getreten: „Was kochen Sie heute?“ Antwort: „Rindfleisch und Erbswurst.“ Ich: „Erbswurst und Rindfleisch. Morjen!“ Zur lebendigen Erinnerung an Doncourt haben wir einen Affenpintscher mitgenommen, der auch „Doncourt“ gerufen wird, Anderes wäre auch nicht mitzunehmen gewesen.

Endlich am 7. September stiegen wir in die sonnigen Gefilde des Moselthales nach Corny hernieder und einer meiner ersten Ausflüge war nach Pont-à-Mousson – zu der blauäugigen Familie. Diese schien einigermaßen überrascht, daß ich so schnell nach drei Wochen schon wiederkam, aber sie war doch recht freundlich und die Veilchenaugen Celestinens – so heißt die Achtzehnjährige – blickten so sanft und schwärmerisch, wie das erste Mal. Ich wurde auch mit Orangeliqueur und Biscuits regalirt, die kleine Zweijährige wollte wissen, was in all den Paketen sei, die ich bei mir hatte, sie vermuthete Bonbons und war sehr indignirt, als sie Siegellack fand.

Vierzehn Tage darauf wiederholte ich meinen Besuch, da schien er zu überraschen, die Mutter war, wie man in der Mark zu sagen pflegt, merkwürdig gekniffen, sie veranlaßte Mademoiselle Celestine, aus dem Zimmer zu gehen, und ich bekam keinen Orangeliqueur. Es wurde dunkel, ich wollte aufbrechen, um noch mit dem Zuge nach Corny respective nach Novéant zurückzufahren. Papa Houillot wollte mich zum Bleiben veranlassen. „Ich könnte für die Nacht mein altes Zimmer wieder beziehen,“ wollte er sagen, aber er sagte es nicht, das Wort blieb ihm im Munde stecken vor dem Blick, den ihm Madame Houillot zugeworfen. Es geschah mir ganz recht, warum beachtete ich nicht das Wort der Zigeunermutter in der Preciosa:

Bist Du wo gut aufgenommen,
Darfst Du nicht zweimal wiederkommen.

Nach Pont-à-Mousson trieb Einen auch schon die Noth. In Corny war gar nichts zu haben. Lichte, Seife, Butter, Papier, alle derartigen Artikel mußte man von dort holen. Die Eisenbahnfahrt währte nur dreiviertel Stunden, kostete zudem nichts, was ein Anreiz mehr war, die Tour zu machen, und schließlich ging man hin, wenn man an seinem Leichnam durch ein Bad einen gründlichen Reinigungsproceß vornehmen, wenn man wieder einmal von Tischtüchern essen, ein Bischen interessante Menschheit sehen wollte und endlich, um nicht ganz aus der Gewohnheit des Geldausgebens zu kommen. In Corny konnte man kein Geld los werden, wenn man es nicht zum Fenster hinauswerfen wollte, was Einen am Ende bei der Armenpolizei in den Verdacht eines unsichern Sanitätszustandes gebracht hätte. In Corny wohnte ich bei einem Stellmacher oder einem mécanicien, wie die Franzosen vornehm sagen. Während unserer sechswöchentlichen Anwesenheit ruhte die Wagenarbeit in der Werkstatt des Mannes ganz; statt Wagen machte er Särge, und wenn ich am lieblichen Herbstmorgen mein Fenster öffnete, so fiel mein erster Blick auf eine stattliche Reihe fertigen Fabrikates jeder Größe, das unter meinen Fenstern aufgestellt war. Der Typhus und die Ruhr wütheten in den um Corny eingerichteten Lazarethbaracken ganz entsetzlich; jeden Morgen mußte mein Wirth zwölf bis achtzehn Särge abliefern und dabei war er nicht der einzige Lieferant. Wir saßen in Corny wahrhaft in einer Pestbeule und mehrmals wurde vor jedem Hause ein Haufen Chlorkalk aufgeschüttet und mit Carbolsäure übergossen, um die Luft von den Miasmen zu reinigen. Mein Wirth führte einen großen Namen, er hieß Girardin, glich aber in sehr wenig seinem Namensvetter, er hatte nicht den Geist, er wußte nicht einmal, wer Friedrich der Große war, aber er hatte auch nicht die sonst allgemein gepflegten preußenfresserischen Gesinnungen. Er schien sogar eine Vorahnung zu haben, daß er deutsch werden würde, denn er erkundigte sich sehr frühzeitig und angelegentlich nach den preußischen Steuern, meinte, daß der Protestantismus eine sehr hübsche Religion sei, und versicherte zuletzt, am Ende sei es ihm ganz einerlei, deutsch oder französisch, wenn er nur Geld verdiene. Ja, das Geld hatte in seinen Augen, wie in denen aller seiner Landsleute, einen großen, einen ungeheuren Werth. Alle Gefühle, alle Eigenschaften, alle Vorzüge, alle Tugenden eines Menschen taxirte er nach baarer Münze.

Monsieur Houillot hatte nur seine Kinder fortgeschickt und die Frau wenigstens behalten, aber Monsieur Girardin hatte mit den zwei Kindern auch noch die Ehegattin nach Metz geschickt, und nun war die Klappe zugemacht, Madame konnte nicht mehr heraus und er nicht mehr hinein. Das war ein großer Jammer. Jeden Abend, wenn Licht angezündet wurde und er sich so vereinsamt sah, begann seine Klage.

„O welche Dummheit habe ich gemacht! Unter den Preußen wäre meine Frau doch viel sicherer gewesen, als in Metz. Hier war ich immer da, aber in der Festung – wer weiß, was da geschieht! Das heißt – ich meine,“ fügte er schnell hinzu, „was die Meinigen da zu leiden haben werden – Pferdefleisch, Kleienbrod! O mon Dieu! Vor lauter Liebe möchte ich sie mit Biscuit füttern, wenn sie nur erst da wären! O was war ich für ein Thor, meine Frau nach Metz zu schicken, und ich Thor war in meinen Gedanken auch noch sehr froh, daß ich sie noch hineingebracht hatte, ehe die Preußen kamen. Nun sitzt sie drin und Bazaine giebt den Schlüssel nicht heraus.“

Jeden Tag, wenn ich vom Schlosse kam, oder wenn er wußte, daß ich dort zur Tafel war, erwartete er mich mit der feststehenden Frage:

„Wie steht es, Monsieur? Ist Metz noch nicht bald über?“

„Ich glaube nicht. Bazaine läßt, wie Sie hören, noch immer schießen.“

Nun konnte man eine Fluth von Schimpfworten über den armen Marschall sich ergießen hören, nach Girardin’s Urtheil war derselbe nicht nur von unbändigem Ehrgeiz besessen, sondern auch der unfähigste aller Generale, der allein an Frankreichs Unglück schuld war, auf den noch die kommenden Geschlechter ihre Verwünschungen häufen würden, und das Alles nur, weil Madame Girardin in Metz festsaß und nicht, wie ihr Gatte so oft wünschte, per Ballon nach Corny befördert werden konnte. Die liebende Ungeduld des Mannes sollte noch auf eine harte Probe gestellt werden. Es verstrichen noch Wochen und Wochen. Sein Schmerz ging mir wahrhaft zu Herzen, namentlich wenn er mit Thränen in den Augen sagte:

„Ich wollte mich doch gern gedulden, wenn ich nur wüßte, ob sie noch am Leben sind. Dem Kleinen wird die Milch fehlen, und wenn das Kind mir stürbe – ich wollte nicht zehntausend Franken darum nehmen.“

Eines Tages jedoch kam Nachricht von Madame Girardin

  1. Vorlage: „anch“
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 414. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_414.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)