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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

Die Krankheiten des Haupthaares und ihre ärztliche Behandlung.
Von Stabsarzt Dr. J. Pincus, Docent an der Universität zu Berlin.
II.


Sie hatten mich gefragt, ob man sich gegen die Krankheitsreize, welche die Kopfhaut treffen, zu schützen vermag, und ich hatte Ihnen geantwortet: gegen die meisten allerdings.

Diejenigen Schädlichkeiten, welche das Haar des Kindes oft dauernd in seinem Wachsthum beeinträchtigen, habe ich bereits erwähnt: Kopfausschläge, und bei Mädchen unsanftes Frisiren.

Bezüglich des späteren Alters habe ich in dem Aufsatz über „den Haarschwund“, den Sie ja nach Ihrer Angabe gelesen haben, schon erwähnt, daß die meisten Laien das allmähliche Hinschwinden der Haare für eine Schwäche des Gesammtkörpers oder der Kopfhaut halten, daß ich jedoch nach meinen Beobachtungen und Untersuchungen dieser Ansicht nur für wenige Fälle zustimmen kann und daß ich für die bei Weitem meisten Fälle den Haarverlust aus einer andauernden Reizung der Kopfhaut ableiten muß. In einigen Aufsätzen, welche ich in medicinischen Zeitschriften veröffentlichte, habe ich den Nachweis geliefert (und ich bitte Sie nur, mir hier einmal ohne ausführlichere Erörterungen auf’s Wort zu glauben), daß nicht ein einfacher Schwund, sondern eine Induration, das heißt eine Verhärtung der Kopfhaut dem Haarverlust zu Grunde liegt. Die Verhärtung ist aber Folge einer krankhaften Reizung. Es erfolgt diese Reizung entweder unmittelbar an der Kopfhaut selbst, oder (und dies ist der weit häufigere Fall) es wird die Reizung anderer Organe durch Vermittlung der Nerven auf die Kopfhaut übertragen.

Bezüglich der örtlichen Reizung unterliegt es zunächst keinem Zweifel, daß auch bei Erwachsenen eine andauernd zerrende Frisur, eine sehr schwere Kopfbedeckung, ein schlecht sitzender Helm, Hiebe auf den Kopf (Studenten-Duelle) einem von Hause aus etwas schwachen Haar erheblich schaden können. Noch bedenklicher ist eine Reizung, welche von Vielen geradezu für heilsam gehalten wird: die täglichen Brausebäder auf den Kopf. Ich selbst und eine große Zahl meiner Patienten, wir verdanken unsern vorzeitigen Haarverlust dieser unpassenden Anwendung des kalten Wassers. Schon das tägliche Waschen der behaarten Kopfhaut mit kaltem Wasser ist ein Reiz, der einen rascheren Haarwechsel hervorruft – aber das tägliche Brausen auf den Kopf (und dies sage ich besonders den zahlreichen Freunden forcirter Kaltwassercuren) viele Monate hindurch, zumal im ersten Mannesalter, greift das Haar gewöhnlich in hohem Grade an. Kann man durchaus (wegen des Gesammt-Befindens) die Brause nicht entbehren, so schütze man wenigstens den Kopf am besten, indem man ihn ganz außer dem Bereich des Wasserfalls bringt; geht das wegen der anderen Zwecke nicht an, dann durch eine Badekappe aus Wachstaffet.

Es leuchtet dem Laien leicht ein, daß Schädlichkeiten, welche die Kopfhaut unmittelbar treffen, auch das Haar ergreifen können. Schwerer begreiflich möchte ihm meine Behauptung erscheinen, daß die Reizung anderer, von der Kopfhaut entfernter Organe sich durch Vermittlung der Nerven auf die Kopfhaut übertragen kann. Indeß diese Behauptung unterliegt keinem Zweifel, und wenn Sie nur sorgfältig Ihre eigenen Erfahrungen oder die Ihrer Bekannten berücksichtigen, so werden Sie selbst bestätigende Beispiele genug angeben können. Zwei Organgruppen sind es besonders, die ihre eigene Reizung auf die Kopfhaut übertragen: die Unterleibsorgane und die Centra des Nervensystems.

Bezüglich der ersteren muß ich Eltern und Erzieher eindringlich und freundlich mahnen, die Entwicklungs-Epoche ihrer Kinder und Zöglinge zu überwachen. In der Zeit, da der Knabe zum Jüngling, das Mädchen zur Jungfrau erblüht, da eine bis dahin nur geahnte oder nicht einmal geahnte Reihe mächtiger Empfindungen auftritt und der Phantasie eine concentrirte Richtung und eine lebhafte Färbung giebt, da wird durch den Mangel richtiger Leitung viel Lebensfrische gedämpft, viel Leid erzeugt: ein solches Leid ist die erhebliche Verschlechterung des Haarwuchses, die in ihren ersten Anfängen sehr bald auftritt, aber erst nach vielen Jahren recht auffällig wird.

„Worin soll die richtige Leitung der heranwachsenden Jugend bestehen?“

In der Aufklärung, in der freundlich warmen, keuschen Darlegung. Sie schütteln den Kopf? Sie zweifeln? Sie meinen: „Ist es nicht bedenklich, wenn ich meinem Sohne, meiner Tochter Aufklärung über die körperliche Entwicklung gebe? Hat es damit nicht noch einige Jahre Zeit, bis eigene Erfahrungen sie zum Nachdenken gebracht haben? Störe ich nicht vielleicht jetzt ihre glückliche, unbefangene Unwissenheit?“ – Ich aber antworte Ihnen: Ihr Sohn, Ihre Tochter bleiben nicht unbefangen, unwissend; Sie können das Ohr Ihres Kindes nicht abschließen vor dem Worte Fremder! Glauben Sie es mir, dem Arzte, der über diesen Punkt viel beobachtet, viel gesonnen und mit Aerzten, Lehrern und Lehrerinnen sehr eingehend gesprochen hat! Durch des Vaters Mund soll der Sohn, durch der Mutter Mund soll die Tochter vernehmen, welche Entwicklung ihr Körper erfährt und weiterhin erfahren wird; – so vernehmen sie es in Züchtigkeit und Milde, und wenn sie nun klar wissen, was sie vorher dunkel ahnten, so können sie trotz dem Wissen unbefangen bleiben, und sie bleiben leichter rein. Und wenn dann ihr Ohr von leichtsinnigen oder schlimmen Unberufenen Worte hört, vor denen wir sie schützen möchten, aber doch nicht schützen können, oder wenn ihnen schlimme Lectüre vor die Augen kommt, dann ist der schädliche Einfluß dieser Worte, dieser Bücher schon halb gebrochen.

Nochmals, ich bitte recht dringend, Aufklärung aus Ihrem Munde ist nöthig. Nun – Sie nicken zustimmend; das freut mich herzlich. Denn ich weiß: es fällt den Eltern oft recht schwer, ihre Zurückhaltung zu überwinden. Aber dies Ueberwinden ist nöthig, durchaus nöthig.

Unter den eigentlichen Krankheiten der Unterleibsorgane haben die acuten Entzündungen oft einen ungünstigen Einfluß auf die Farbe des Haares: sehr viele Fälle vorzeitigen und raschen Ergrauens sind daher abzuleiten. Unter den chronischen Störungen greifen die anhaltenden Katarrhe des Magens und Darmes und die Reizzustände der Leber das Haar oft sehr an. Eine Reihe von Erschöpfungszuständen, welche von chronischen Unterleibskrankheiten eingeleitet oder begleitet werden (Bleichsucht, viele nervöse Beschwerden), haben den gleichen unangenehmen Einfluß auf das Haar.

„Kann man bei dem Bestehen solcher Leiden das Haar durch besondere Maßnahmen schützen?“

Dasjenige, was ich Ihnen früher als die wichtigsten Momente der Pflege des Haares bezeichnet habe, verdient in solchen Krankheitszuständen eine ganz besondere Berücksichtigung Ihrerseits. Diese Krankheiten sind übrigens an und für sich in der Regel so deutlich, daß sie die Betroffenen veranlassen, ärztliche Hülfe zu suchen. Die Curmethoden, welche jene Leiden erfolgreich bekämpfen, kommen auch dem Haarwachsthum zu gut; oft genug schwinden jene Leiden, aber das Haar will sich nicht erholen; dann läßt sich zuweilen (freilich nicht immer) noch nutzreich eine örtliche Behandlung der Kopfhaut einleiten.

Stets behauptet, vielfach bestritten, aber nach meiner Meinung unzweifelhaft feststehend ist die reizende Rückwirkung der Reizungszustände der Centra des Nervensystems, namentlich des Gehirns, auf die Kopfhaut; angestrengte Geistesarbeit, starke Gemüthsbewegungen, stiller Kummer, andauernde Störungen des Schlafes – und das sind, medicinisch gesprochen, Reizungen des Gehirns – haben diese Rückwirkung auf das Haarwachsthum. Nun ist es unmöglich, Kummer, Sorge, Aufregung aus der Welt zu schaffen, und es liegt mir natürlich fern, geistige Anstrengung zu widerrathen, etwa damit das Haar nicht leide – aber die Erfahrung lehrt, daß eine tüchtige körperliche und geistige Organisation allen Widerwärtigkeiten und allen Geistesanstrengungen trotzt, ohne Schaden, auch ohne Schaden für das Haar – man stähle sich daher zu guter Zeit durch Uebung und Gewöhnung, um im Leid Kraftvorrath zu haben, und wer schwach ist, der meide – nicht die Anstrengung, aber wohl die Ueberanstrengung, und unabwendbares Leid trage er in milder Ergebung.

Uebrigens wird auch in solchen Zuständen die Beachtung der von mir gegebenen Regeln für die Pflege des Haares sichtbaren Nutzen für das Wachsthum desselben schaffen. –

Die Worte, die ich hier geschrieben, sie dringen, so weit die deutsche Zunge klingt; sie werden gelesen in tausenden von den Centralpunkten der Geistesarbeit isolirten Familien, die in der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 426. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_426.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)