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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Die Flucht eines „Maikäfers“.


Manche, namentlich sächsische Leser der Gartenlaube, werden sich wohl noch eines Mannes entsinnen, welcher wegen seiner Betheiligung an den Ereignissen des Jahres 1849 in Sachsen zu schwerer Büßung verurtheilt wurde und auf unbegreifliche Weise aus seinem Gefängnisse in Meißen entkam. Es ist dies der vormalige Bürgerschullehrer Thürmer, dem unter erstaunlichen Gefahren seine Flucht gelang, und der sich später im Staate Indiana in Nordamerika durch Musikunterricht eine ansehnliche Farm erworben hat, auf welcher er nun mit den Seinen ein sorgenfreies und glückliches Familienleben genießt. Auf die Bitten seiner näheren Freunde und Bekannten theilt er hiermit die Schilderung seiner Flucht mit. Vorausschicken müssen wir nur noch, daß das Meißner Gefängniß, in welchem Thürmer damals saß, das sogenannte städtische Stockhaus am Stadtgraben nach der Elbseite hin war. Das Gebäude hatte einen Theil der alten Befestigung gebildet und war mit einem viereckigen Thurm versehen. Die politischen Gefangenen wurden in diesem städtischen Gefängniß untergebracht, bis nach der Flucht Thürmer’s größere Vorsicht nöthig erschien und die noch übrigen „Maikäfer“, so nannte man damals die sächsischen Maigefangenen, ein strengeres Gewahrsam in der Frohnfeste des Gerichtsamts auf dem Schlosse neben der Albrechtsburg angewiesen erhielten.

„Nachdem ich,“ so schreibt uns Thürmer, „mein Urtheil vernommen hatte, welches auf Tod lautete, aber durch Königs Gnade auf lebenslängliches Zuchthaus herabgesetzt war, begann ich ernstlich auf meine Befreiung zu denken, für die ich mancherlei Pläne hatte. Gleich der erste gelang nicht, weil das Zeichen von außen nicht zur passenden Zeit gegeben wurde. Dieser Fehlschlag brachte mich auf den Gedanken, meine Befreiung aus dem Gefängnisse weder von Personen noch von der Zeit abhängig zu machen, dafür aber jeden Augenblick fertig zur Flucht zu sein, wenn sich die Umstände günstig gestalteten. Das Erste, was ich zu meinem Entkommen nothwendig hatte, war eine Leine, die ich durch meine Frau erhielt und mehrere Wochen mit mir herumtrug. Das Nächste war eine finstere, regnerische und stürmische Nacht, wodurch die hintere Schildwache abgehalten würde, den Thurm regelmäßig zu umschreiten. Diese Nacht war am 7. December 1850 gefunden, die Schritte der Schildwache ließen sich nur in großen Zwischenräumen vernehmen. Jetzt oder nie! Gegen sieben Uhr Abends erhielt ich mein Nachtessen, und dann blieben die inneren Thore offen bis zur Bettzeit, da die Wachen an beiden Ausgängen für die Sicherung der Gefangenen hinreichend waren. Schlag sieben Uhr knüpfte ich mein Kopfkissen in die Weste, setzte eine Mütze darauf und legte diesen Wickel statt meiner in’s Bett; dann hing ich einen Rock über den Stuhl und stellte ein brennendes Lämpchen neben das Bett. Nachdem dies geschehen, verließ ich das Gewölbe, welches mich neunzehn Monate beherbergt hatte, und ging auf den Oberboden des Bürgergefängnisses. Hier kletterte ich in das Sparrwerk und knüpfte meine Leine an den dicksten Balken an; dieselbe im Gehen abwickelnd, kroch ich aus einem Loche im Giebel auf das Dach eines andern Gefängnisses; doch hier wurde ich aufgehalten, da ich nicht vermochte, auf einem Ziegeldache in die Höhe zu klimmen. Ich versuchte auf den Knieen zu rutschen, ich suchte mich mit den Fingern in den Ritzen einzuklemmen, und nahm meine Leine in den Mund; aber Alles war vergebens. Da fiel mir ein, daß meine Stiefel die Ursache des Mißerfolges seien; ich schnitt daher mit einem Messer, welches ein Verwandter in meinem Gefängnisse vergessen hatte, die Spitzen beider Stiefel und Strümpfe durch, so daß ich mich mit den Zehen anhalten konnte, und nun ging die Reise das Dach hinauf zwar langsam, aber doch sicher, vorwärts.

Endlich erreichte ich die Feueresse, die ich, wie einen Freund, mit beiden Armen umklammerte. In dieser Höhe richteten sich meine Gedanken das erste Mal auf die Schildwache, die mir nun ganz ungefährlich vorkam, und die ich auch nicht hörte. Nachdem ich ein Weilchen gehorcht, ließ ich meine Leine auf der andern Seite des Daches niedergleiten, mußte sie aber zwei oder drei Mal zerschneiden, da sie sich verwickelte. An dem Rettungsseile festhaltend, glitt ich bis an den Rand des Daches nieder, und da eine gute Partie Dachziegel hinter mir dreinkamen, so hörte ich, wie Gefangene neben mir ihre Bemerkungen über die Heftigkeit des Sturmes austauschten. Nachdem die Steine sich beruhigt hatten, warf ich, am Rande des Daches sitzend, einen Blick in die Unterwelt, und da Alles in tiefes Schweigen und Finsterniß gehüllt war, so brachte mich ein Augenblick auf den sichern Boden.

Abermals folgten mir, aus alter Anhänglichkeit, mehrere Ziegel des Gefängnisses nach, ich hielt es aber nicht für geraten, zu warten und zu hören, was der oder jener Gefangene dazu sagte, vielmehr steuerte ich eiligst nach einer mir bekannten Lücke in der Stadtmauer und dann nach dem Mühlgraben zu, welchen letzteren ich durch Tasten mit den Händen entdeckte. Ausholen und in das Wasser springen war das Werk eines Augenblicks. Doch glücklicherweise schlug ich mit der Brust auf der jenseitigen Mauer an und hatte dadurch Gelegenheit, mich schnell emporzuziehen. ‚Auf dem Graben‘ weiter gehend, kam ich an die Brücke, wo mir wenig Gehende begegneten. Nachdem ich die Wache passirt, fiel ich am anderen Ende der Brücke zusammen und hatte nur so viel Kraft, mich an der Mauer anzuhalten. Der Athem versagte mir, und ich war nicht im Stande, nur einen Fuß zu rühren. Als jedoch nach einigen Minuten der ruhige Athemgang wieder gekommen war, machte ich auf’s Neue zehn bis fünfzehn Schritte, womit ich die Biegung der Brücke nach Cölln zu erreichte. Hier versagten mir die Beine ihren Dienst; mich an der Mauer anzuhalten, war unmöglich, da die Kniee gänzlich kraftlos waren. Ich sank zusammen und versuchte, mich mit den Händen fortzuarbeiten, indem ich mich an den Straßensteinen anhielt und die Beine nachschleppte. Doch das war eine fast vergebliche Arbeit, und jede Minute dünkte mir eine Ewigkeit zu sein. Endlich kam mir die Natur wieder zu Hülfe; hatte ich erst vergebens versucht, die Kniee mit den Händen gerade zu bringen, so spannten sich jetzt die Muskeln von selbst wieder, und ich fing an, auf allen Vieren über die Straße zu kriechen, um in den Weinbergen vor anderweiten Unfällen geschützt zu sein. Doch war ich kaum an der Mauer des Rathsweinberges angekommen, als ich die alte Kraft in mir fühlte. Mit Einem Satze war ich über die Mauer und in dem Weinberge.

Obwohl ich daran dachte, wie Gottes Hand mich so sichtbar geleitet und beschützt, so hatte ich doch nicht Zeit, mein Gefühl in Worte zu fassen, da ich ungesäumt meinem Grundsatze folgen mußte: ‚Hilf dir selbst, so wird Gott dir helfen!‘ Eilig durchschritt ich die Rebstöcke und ging über die Niedermauerstraße in das gegenüberliegende Feld nach dem ehemaligen Postgute zu, in welchem mein Freund, der Orgelbauer Pfützner, wohnte. Da an dem Hause eine Schildwache stand, so konnte ich nicht geradezu laufen und anklopfen, sondern ließ in einiger Entfernung einen gellenden Pfiff durch die Finger erklingen. Auf dieses Zeichen öffnete Frau Pfützner eine Thür und geleitete mich ungesehen in ihre Räume. Kein Wort verrieth, was in uns vorging, und nur ein warmer Händedruck diente als Ausdruck der Gefühle. Ein anscheinend fest angeschraubter Arbeitstisch ihres Mannes (der eben in Niederau eine Orgel baute) wurde abgerückt, und es zeigte sich dahinter in der Wand eine Höhlung, in welcher sich eine Bettdecke und in friedlicher Nähe eine Flasche Wein, Butterbrod und andere nöthige Utensilien befanden. Ich schlüpfte in das Loch hinein und konnte, ohne mich zu wenden, ziemlich bequem auf einer Seite liegen, doch um zu sitzen, mußte ich dem Kopf einziehen und das Pedal an mich herannehmen. Kaum war ich darin, so wurde die Oeffnung wieder zugeschoben und ich allein gelassen. Zu meinen Füßen wandelte die Schildwache, welche mir eine wahre Sicherheitswache war, da kein Mensch in dem beschildwachten Gebäude einen flüchtigen Hochverräther vermuthete, und das Haus, obwohl Pfützner anrüchig war, mit Haussuchungen verschont blieb.

Nach der Ruhe von einigen Stunden fing es an, lebendig zu werden. Ich hörte in Meißen Trommeln und Hörner, dann denselben Lärm in Vorbrücke, Cölln, Zscheila, Ober- und Niederau. Das Getöse hatte auch meinen Freund Pfützner nach Hause getrieben; er trat in meine Versteckstube und verkündete laut, daß der Lehrer Thürmer auf unbegreifliche Weise aus dem Gefängnisse entwischt sei, daß man ihn aber bald wieder haben werde, da das ganze Militär bis Dresden hinauf und bis an die preußische Grenze alarmirt wäre. Darauf ging er nach der Stadt und erzählte beim Wiederkommen, daß alle Wirthschaften, obwohl

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 446. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_446.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)